Während der folgenden Tage schlug der Wind um, das Thermometer stieg wieder; der Schnee wirbelte in minder strenger Luft. Einige der Leute konnten in den nicht so feuchten Tagesstunden das Schiff verlassen; aber Augenleiden und Scorbut hielten die meisten derselben an Bord; zudem waren weder Jagd noch Fischfang möglich.
Übrigens war es nur eine Unterbrechung der argen Kälte, und als am 25. der Wind unversehens wieder umschlug, gefror das Quecksilber abermals; man griff zum Weingeistthermometer, da diese Flüssigkeit bei ärgster Kälte nicht gefriert.
Der Doctor fand mit Schrecken siebenzig Grad unter Null (– 52 hunderttheilig), eine Kälte, die kaum jemals Menschen zu bestehen hatten.
Das Eis verbreitete sich in langen trüben Spiegeln auf dem Fußboden; dichter Nebel durchdrang den Saal; die Feuchtigkeit sank als dichter Schnee nieder; man konnte sich nicht mehr sehen; im menschlichen Körper zog sich die Wärme von den äußeren Theilen zurück; Füße und Hände wurden blau; der Kopf war wie mit eisernem Reif umspannt, und der verwirrte Gedanke nahte dem Wahnsinn. Erschreckliches Symptom: die Zunge vermochte nicht mehr ein Wort deutlich hervorzubringen.
Seit dem Tage, da man Hatteras drohte sein Schiff zu verbrennen, trieb er sich Stunden lang auf dem Verdeck herum, dasselbe zu überwachen, zu hüten. Dies Holz war ihm so werth, wie sein eigen Fleisch; hieb man ein Stück davon ab, so schnitt man ihm ein Glied vom Leibe. Mit der Waffe in der Hand hielt er Wache, unempfindlich gegen Kälte, Schnee, Eis; seine Kleider wurden steif, als stecke er in einem Panzer von Granit. Duk verstand ihn, und leistete ihm Gesellschaft mit Bellen und Heulen.
Doch am 25. December, als er in den gemeinschaftlichen Saal hinab kam, nahm der Doctor den Rest seiner Energie zusammen und ging stracks auf ihn zu.
»Hatteras, sprach er, wir kommen um aus Mangel an Feuer.
– Niemals! sagte Hatteras, der wohl wußte, worauf er abzielte.
– Es ist dringend nöthig, fuhr der Doctor leise fort.
– Niemals, fuhr Hatteras mit Nachdruck fort, ich gebe nie meine. Einwilligung dazu! Thu mans wider meinen Willen, wenn man will!«
Damit war Freiheit zu handeln gegeben. Johnson und Bell stürzten aufs Verdeck. Hatteras hörte das Holz seiner Brigg unter Beilhieben krachen; es traten ihm Thränen in die Augen.
Es war eben Weihnachten, das Familienfest, die Kinderfreude in England um den grünen Baum herum. Hier aber Schmerz, Verzweiflung, Jammer im höchsten Grad, und zum Weihnachtsscheit diese Stücke Holz von dem in eisiger Zone verlorenen Schiff.
Inzwischen kam in Folge des Feuers den Matrosen Empfindung und Geisteskraft wieder; heißer Thee oder Kaffee bewirkten augenblickliches Wohlbehagen, und die Hoffnung haftet so fest im Geist, daß man wieder Hoffnung faßte. Mit solchen Gegensätzen schloß dieses unselige Jahr 1860, dessen vorzeitiger Winter die kühnen Pläne Hatteras vereitelte.
Nun begab sich gerade am 1. Januar 1861 eine ganz unerwartete Entdeckung. Es war etwas weniger kalt; der Doctor hatte seine Studien wieder vorgenommen und las die Berichte Sir Edward Belchers über seine Expedition in die Polarmeere. Plötzlich traf er mit Erstaunen auf eine bisher nicht bemerkte Stelle; er las sie wiederholt; sie war nicht mißzuverstehen.
Sir Edward Belcher erzählte, er habe am Ende des Canals der Königin wichtige Spuren eines Aufenthalts von Menschen entdeckt.
»Es sind, sagte er, Reste von Wohnungen, die weit besser sind, als Alles, was man den herumstreifenden Eskimostämmen zuschreiben kann. Ihre Wände stehen fest im tief aufgegrabenen Boden; der mit schönem Kies bedeckte Fußboden im Innern war gepflastert. Gebeine von Rennthieren, Seekühen, Robben sieht man da in Menge. Wir trafen auch Kohlen an.«
Bei diesen letzten Worten kam dem Doctor ein Gedanke; er nahm sein Buch und theilte es Hatteras mit.
»Kohlen! rief dieser aus.
– Ja, Hatteras, Kohlen; das will heißen unsere Rettung.
– Kohlen! an dieser unbewohnten Küste! fuhr Hatteras fort. Nein, das ist nicht möglich!
– Weshalb daran zweifeln, Hatteras? Belcher hätte von so einer Thatsache nicht gesprochen, ohne mit eigenen Augen gesehen zu haben.
– Nun, demnach, Doctor?
– Wir sind keine hundert Meilen von der Küste entfernt, wo Belcher die Kohlen sah! Was will ein Ausflug von hundert Meilen bedeuten? Nichts. Man hat oft übers Eis hin weit größere Untersuchungsfahrten, und bei ebenso hoher Kälte gemacht. Also wollen wir uns auf den Weg machen, Kapitän!
– Wir wollen hin!« rief Hatteras, der sich schnell entschloß, und mit beweglicher Phantasie sah er darin Aussicht auf Rettung.
Johnson wurde sogleich von diesem Entschluß in Kenntniß gesetzt, und billigte ganz das Vorhaben; er theilte es seinen Kameraden mit; die einen nahmen es beifällig auf, die anderen mit Gleichgültigkeit.
Kohlen an jenen Küsten! sagte Wall aus seinem Schmerzenslager heraus.
– Lassen wir sie nur gewähren«, erwiderte Shandon geheimnißvoll.
Aber ehe noch die Vorbereitungen zur Reise gemacht wurden, fand Hatteras für gut, die Lage des Forward aufs Genaueste festzustellen. Die Wichtigkeit dieser Berechnung ist leicht erklärlich, und weshalb man diese Lage mathematisch genau kennen mußte. War man einmal vom Schiff entfernt, so konnte man es ohne sehr genaue Angaben nicht wieder finden.
Hatteras begab sich also aufs Verdeck, und nahm zu verschiedenen Malen mehrere Mond-Abstände und die Meridianhöhe der hauptsächlichen Sterne auf.
Diese Beobachtungen boten ernstliche Schwierigkeiten dar, denn bei dieser niederen Temperatur wurden die Spiegel der Instrumente von Hatteras Athem mit einer Eisschichte bedeckt.
Doch gelang es ihm, sehr genaue Grundlagen für seine Berechnungen zu bekommen und er kam in den Saal zurück, seine Rechnung anzustellen. Als er damit fertig war, richtete er mit Staunen den Kopf auf, nahm seine Karte, notirte sein Ergebniß und sah den Doctor an.
»Nun? fragte dieser.
– Unter welcher Breite befanden wir uns beim Anfang unsers Winterlagers?
– Unter achtundsiebenzig Grad fünfzig Minuten Breite, und fünfundneunzig Grad fünfunddreißig Minuten Länge, gerade am Kältepol.
– Dann, fügte Hatteras leise bei, treibt unser Eisfeld! Wir befinden uns eben zwei Grad weiter nördlich und weiter nach Westen, wenigstens dreihundert Meilen von Ihrer Kohlenniederlage entfernt!
– Und diese Unglücklichen wissens nicht! ... rief der Doctor.