– Und weshalb? fragte Shandon.
– Weil all dieses Außerordentliche, Phantastische, geeignet ist, die Leute einzuschüchtern. Sie sind bereits sehr in Unruhe über das Schicksal einer so auftretenden Expedition. Wenn man sie nun zum Uebernatürlichen hindrängt, so kann dies schlimme Folgen haben, und wir möchten im Moment der Gefahr nicht auf sie zählen können. Was sagen Sie dazu, Commandant?
– Und Sie, Doctor, was halten Sie davon? fragte Shandon.
– Meister Johnson, erwiderte der Doctor, scheint mir verständig zu urtheilen.
– Und Sie, James? – Besseres vorbehalten, versetzte Wall, trete ich der Meinung dieser Herren bei.«
Shandon sann einige Augenblicke nach, las noch einmal achtsam den Brief.
»Meine Herren, sagte er, Ihre Ansicht ist gewiß gut, aber ich kann sie nicht theilen.
– Und weshalb, Shandon? fragte der Doctor.
– Weil in dem Brief förmlich vorgeschrieben ist, die Mannschaft von Seiten des Kapitäns zu beglückwünschen; nun hab ich bisher stets blind seinen Befehlen gehorcht, in welcher Weise auch sie mir zugestellt wurden, und ich kann nicht ...
– Doch ... versetzte Johnson, der mit Recht um die Wirkung besorgt war, welche dergleichen Mittheilungen auf den Geist der Matrosen haben würden.
– Wackerer Johnson, entgegnete Shandon, ich begreife, daß Sie darauf dringen, Ihre Gründe sind vortrefflich, aber lesen Sie:
»Er bittet Sie, der Mannschaft seinen Dank dafür auszusprechen.«
– Nun so verfahren Sie demnach, fuhr Johnson fort, der übrigens sonst strenge den Gehorsam zu wahren verstand. Soll man die Mannschaft auf dem Verdeck versammeln?
– Thun Sie das«, erwiderte Shandon.
Die Neuigkeit von einer Mittheilung des Kapitäns verbreitete sich augenblicklich an Bord. Die Matrosen kamen unverzüglich an den Platz für ihre Revue, und der Commandant las laut den geheiminßvollen Brief.
Man hörte mit dumpfem Schweigen dem Verlesen zu; die Leute gaben sich tausend Vermuthungen hin; Clifton konnte sich nun allen Abschweifungen seiner abergläubischen Phantasie überlassen; er schrieb dem Kapitän Hund seinen redlichen Antheil dabei zu, und verfehlte nicht ihn zu grüßen, als er zufällig ihm in den Weg kam. Ein Jeder war überzeugt, daß des Kapitäns Schatten oder Geist am Bord wache; die Gescheitesten hüteten sich von nun an, ihre Vermuthungen gegen einander zu äußern.
Am 1. Mai ergab die Aufnahme zu Mittag 68° Breite und 56° 32 Länge. Die Temperatur war gestiegen, und das Thermometer zeigte fünfundzwanzig Grad unter Null (-4° hunderttheilig).
Der Doctor hatte das Vergnügen zuzuschauen, wie eine weiße Bärin am Rande eines, längs der Küste schwimmenden Eisblocks mit zwei Jungen spielte. Er machte mit Wall und Simpson einen Versuch, in dem Boot Jagd auf sie zu machen; aber das eben nicht kampflustige Thier schleppte rasch seine Jungen mit sich fort, und man mußte auf ihre Verfolgung verzichten.
Vom Wind begünstigt fuhr man während der Nacht ums Cap Chidley herum, und bald sah man am Horizont die hohen Berge von Disko sich erheben; rechts ließ man die Bai Godauhn, wo der Generalgouverneur der dänischen Niederlassungen residirte. Shandon hielt nicht für angemessen, sich hier aufzuhalten, und fuhr an den Piroguen der Eskimos, welche zu ihm zu gelangen bemüht waren, rasch vorüber.
Die Insel Disko heißt auch Wallfischinsel. Von hier aus schrieb am 12. Juli 18l5 Sir John Franklin zum letztenmal an die Admiralität, und hier legte auch, am 29. August 1859, der Kapitän Mac Clintock bei seiner Rückkehr an, indem er die nur zu sichern Beweise vom Untergang dieser Expedition mitbrachte.
Bald verschwanden die Höhen von Disko vor den Blicken.
Es befanden sich damals zahllose Eisberge an den Küsten, welche auch das stärkste Thauwetter nicht loslösen kann; diese ununterbrochene Reihe von Bergspitzen zeigte die seltsamsten Formen.
Am folgenden Morgen gegen drei Uhr gewahrte man nordöstlich Sanderson Hope; das Land blieb etwa fünfzehn Meilen links liegen; die Berge schienen röthlich nußbraun gefärbt. Am Abend sah man einige Wallfische von der Sorte, welche Flossen auf dem Rücken haben, mitten zwischen den Eisblöcken sich erlustigen.
Während der Nacht vom 3. auf 4. Mai konnte der Doctor zum erstenmal die Sonne am Rande des Horizonts streifen sehen, ohne daß ihre leuchtende Scheibe untertauchte; seit 31. Januar hatten ihre Bahnkreise täglich zugenommen, und es herrschte jetzt ununterbrochene Tageshelle.
Für Zuschauer, die es nicht gewohnt sind, ist diese ununterbrochene Dauer des Tages etwas erstaunlich Merkwürdiges, das selbst beschwerlich wird; man kann kaum glauben, wie sehr die Dunkelheit der Nacht für die Gesundheit der Augen nöthig ist; es verursachte dem Doctor wirklichen Schmerz, um sich an dies fortwährende Licht zu gewöhnen, welches durch den Reflex der Strahler auf den Eisebenen noch schmerzhafter blendete.
Am 5. Mai fuhr der Forward über den zweiundsiebenzigsten Breitegrad. Zwei Monate später hätte er hier zahllose Wallfischfahrer getroffen, welche in diesen hohen Strichen dem Fischfang obliegen; aber die Straße war noch nicht frei genug, daß diese Fahrzeuge es wagen konnten, ins Baffins-Meer zu dringen.