Diesen Tag über bahnte sich der Forward einen leichten Weg zwischen den halb zerbröckelten Eisblöcken; der Wind war günstig, aber die Temperatur sehr niedrig; die über die Eisfelder streichende Luft durchdrang mit frischer Kälte. Die Nacht erforderte die strengste Achtsamkeit; die schwimmenden Berge drängten sich in der engen Straße zusammen: man zählte ihrer oft bei hundert am Horizont; sie lösten sich durch Einwirkung der benagenden Wellen und der Aprilsonne von den vorragenden Küsten ab, um zu zerschmelzen oder in die Tiefen des Oceans zu versinken. Man begegnete auch langen Flößen Treibholz, mit welchen man nicht zusammenstoßen durfte. Darum wurde auch das »Krähennest« an der Spitze eines Mastes angebracht, bestehend aus einer Tonne mit beweglichem Boden, worin der Eismeister, zum Theil gegen den Wind geschützt, das Meer überschaute, die herannahenden Eisblöcke meldete, und selbst nöthigenfalls das Manoeuvriren des Schiffes angab. Die Nächte waren kurz; die Sonne war in Folge der Strahlenbrechung seit dem 31. Januar wieder zum Vorschein gekommen, und hielt sich allmälig länger über dem Horizont. Aber durch den Schnee war die Aussicht gehemmt, und wenn er auch nicht Dunkelheit veranlaßte, so machte er doch die Fahrt schwierig.
Am 21. April zeigte sich mitten im Nebel das Cap Desolation; die Mannschaft war durch das Manoeuvriren erschöpft; seitdem die Brigg zwischen den Eisblöcken fuhr, hatten die Matrosen nicht einen Augenblick Ruhe gehabt; man mußte bald den Dampf zu Hilfe nehmen, um sich mitten durch aufgeschichtete Blöcke einen Weg zu bahnen.
Der Doctor und Meister Johnson plauderten auf dem Hinterverdeck mit einander, während Shandon in seiner Cabine einige Stunden Schlaf genoß. Clawbonny suchte die Unterhaltung des alten Matrosen auf, welchem seine zahlreichen Reisen eine interessante und verständige Erziehung gegeben hatten. Der Doctor gewann ihn sehr lieb, und der Rüstmeister blieb ihm nichts schuldig.
»Sehen Sie, Herr Clawbonny, sagte Johnson, dieses Land ist nicht wie alle andern; sein Name bedeutet »Grünes Land«, aber nur wenig Wochen im Jahre ist diese Benennung gerechtfertigt!
– Wer weiß, wackerer Johnson, erwiderte der Doctor, ob nicht im zehnten Jahrhundert dieses Land Anspruch auf eine solche Benennung haben konnte. Auf unserm Erdball ist schon manche Umänderung dieser Art vorgekommen, und Sie werden vielleicht staunen, wenn ich Ihnen sage, daß isländischen Chroniken zufolge vor acht bis neunhundert Jahren zweihundert Dorfschaften auf diesem Continent blühten.
– Diese Aeußerung, Herr Clawbonny, versetzt mich dermaßen in Staunen, daß ich ihr nicht einmal Glauben beimessen kann, denn s ist ein ödes Land!
– Gut! So öde es auch sein mag, so bietet es doch Bewohnern, und selbst civilisirten Europäern, hinreichend eine Stätte ruhiger Abgeschiedenheit.
– Allerdings! Zu Disco, zu Uppernawik werden wir Leute finden, die mit einem Leben in solchem Klima zufrieden sind; aber ich habe immer gedacht, sie hätten diesen Aufenthalt nicht mit Vorliebe, sondern nothgedrungen, gewählt.
– Ich glaube es gern; doch gewöhnt sich der Mensch an alles, und es scheint mir, diese Grönländer sind nicht ebenso zu beklagen, als die Arbeiter in unsern großen Städten; sie können unglücklich sein, aber sicherlich im Elend leben sie nicht, ferner, ich sage wohl unglücklich, aber dieses Wort drückt nicht völlig meinen Gedanken aus; in der That, leben diese Leute auch nicht so im Wohlbehagen, wie wir in der gemäßigten Zone; in diesem Klima geboren, finden sie offenbar darin Genüsse, für welche uns der Begriff abgeht!
– Das muß man wohl annehmen, Herr Clawbonny, weil der Himmel gerecht ist; aber ich bin vielfach auf Reisen an diese Küsten gekommen, und der Anblick dieser traurigen Einöden hat mir stets das Herz zusammengeschnürt; man hätte z. B. den Caps, Vorgebirgen, Baien freundlichere Namen geben sollen, denn die Bezeichnungen Farewell und Desolation sind nicht geeignet, die Seefahrer anzuziehen!
– Diese Bemerkung habe ich ebenfalls gemacht, erwiderte der Doctor; aber diese Namen haben unverkennbar ein geographisches Interesse; sie bezeichnen die Erlebnisse derer, welche die Namen beigelegt haben; wenn ich neben den Namen Davis, Baffin, Hudson, Roß, Parry, Franklin das Cap Desolation (Trostlosigkeit) finde, so stoße ich bald auf die Bai der Gnade(Mercy): es ist da die ununterbrochene Reihe von Gefahren, Hindernissen, Erfolgen, Verzweifeln und Gelingen verbunden mit den großen Namen meines Vaterlandes, daß ich die ganze Geschichte dieser Meere darin lesen kann.
– Richtig geurtheilt, Herr Clawbonny, und möchten wir nur bei unserer Reise auf mehr Baien des Erfolges (Succés), als Caps der Desolation treffen!
– Das wünsch ich, Johnson; aber, sagen Sie mir, hat sich die Mannschaft ein wenig von ihren Strapazen erholt?
– Ein wenig, mein Herr; und doch, um alles herauszusagen, seit unserer Einfahrt in die Straße hat man wieder angefangen, sich über den eingebildeten Kapitän Gedanken zu machen; mancher war darauf gespannt, daß er an der Spitze von Grönland erschiene, und bis jetzt, nichts! Sehen Sie, Herr Clawbonny, unter uns, ist das nicht etwas zum Verwundern?
– Ja wohl, Johnson.
– Glauben Sie, daß der Kapitän existirt?
– Ganz gewiß.
– Aber was konnte er für Gründe haben, so zu handeln?
– Soll ich völlig heraussagen, was ich denke, so glaube ich, dieser Mann wollte die Mannschaft erst weit genug fortziehen, daß sie nicht mehr umkehren konnte. Wäre er nun im Moment der Abfahrt an seinem Bord erschienen, so hätte jeder die Bestimmung des Schiffes haben hören wollen, wodurch er in Verlegenheit gerathen wäre.
– Und weshalb? – Wahrhaftig, wenn er eine übermenschliche Unternehmung wagen, wenn er vordringen will, wohin so viele Andere vor ihm nicht konnten, glauben Sie, daß er seine Mannschaft beisammen behalten hätte? Dagegen, wenn man einmal unterwegs ist, kann man so weit gehen, daß das Vorwärtsdringen zu einer Nothwendigkeit wird.
– Das ist möglich, Herr Clawbonny; ich habe mehr als einen unerschrockenen Abenteurer kennen gelernt, dessen bloßer Name in Schrecken setzte, und der keinen Mann gefunden hätte, um ihn bei seinen gefährlichen Unternehmungen zu begleiten ...
– Mich ausgenommen, sagte der Doctor.
– Und mich nach Ihnen, erwiderte Johnson, und um mich Ihnen anzuschließen! Ich nehme also an, daß unser Kapitän ohne Zweifel zu solchen Abenteurern gehört. Wir werden es am Ende sehen; ich vermuthe, daß in der Gegend von Uppernawik oder der Bai Melville dieser tapfere Unbekannte sich im Stillen an Bord einfinden und uns zu erkennen geben wird, bis wohin seine Phantasie das Schiff fortzuziehen im Sinne hat.
– Der Meinung bin ich auch, Johnson; aber die Schwierigkeit wird darin bestehen, bis zu dieser Bai Melville zu gelangen; sehen Sie, wie auf allen Seiten diese Eisblöcke uns umgeben! Sie lassen ja dem Forward kaum einen Durchweg. Betrachten Sie nur diese unermeßliche Ebene.
– Wir Wallfischfänger, Herr Clawbonny, nennen dies ein Eisfeld, d.h. eine Fläche zusammenhängender Eisblöcke, deren Ende man nicht absieht.
– Und hier, dieses unterbrochene Feld, diese langen Stücke, welche mehr oder minder an einander anstoßen?