Wohl war Julia an Augenblicke gewöhnt, in denen Hedwiga geistig krankhafter Überspannung erlag, doch fremd, ganz fremd und rätselhaft war ihr der Paroxysmus, wie er sich eben jetzt zeigte. Sonst war es eine leidenschaftliche Verbitterung, die, erzeugt von dem Miß261verhältnis des innern Gefühls mit der Gestaltung des Lebens, beinahe bis zum Gehässigen sich steigernd, Julias kindliches Gemüt verletzte. Jetzt schien Hedwiga, wie sonst niemals, ganz aufgelöst im Schmerz und namenloser Wehmut, und dieser trostlose Zustand rührte Julien in eben dem Grade, als ihre Angst stieg um die geliebte Freundin.
Hedwiga, rief sie, meine Hedwiga, ich verlasse Dich ja nicht, kein treueres Herz neigt sich zu Dir, als das meinige, aber sprich, o sprich doch nur, vertraue mir doch nur, welch eine Qual Dein Inneres zerreißt? — Mit Dir will ich klagen, mit Dir will ich weinen!
Da verbreitete sich ein seltsames Lächeln auf Hedwigas Antlitz, ein sanftes Rot schimmerte auf den Wangen, und ohne die Augen zu öffnen, lispelte sie leise: Nicht wahr, Julia, Du bist nicht in Liebe?
Seltsam fühlte sich Julia von dieser Frage der Prinzessin getroffen, als durchbebe sie ein jäher Schreck.
In welches Mädchens Brust regen sich nicht Ahnungen einer Leidenschaft, die das Hauptbedingnis scheint seiner Existenz, denn nur das liebende Weib ist dies ganz. Doch ein reiner, kindlicher, frommer Sinn läßt diese Ahnungen ruhen, ohne weiter zu forschen, ohne im lüsternen Vorwitz das süße Geheimnis enthüllen zu wollen, das nur in dem Moment aufgeht, den eine dunkle Sehnsucht verheißen. So war es mit Julia, die plötzlich ausgesprochen hörte, was sie zu denken nicht gewagt und geängstigt, als zeihe man sie einer Sünde, der sie selbst nicht klar sich bewußt, ihr eignes Innere ganz zu durchschauen sich mühte.
Julia, wiederholte die Prinzessin, Du liebst nicht? — sage es mir! — sei aufrichtig!
Wie sonderbar, erwiderte Julia, wie seltsam Du mich frägst, was kann, was soll ich Dir antworten.
Sprich, o sprich, flehte die Prinzessin! — Da ward es sonnenhell in Julias Seele und sie fand Worte, das auszusprechen, was sie deutlich erblickte in ihrem eignen Innern.
Was geht vor in Deinem Gemüt, Hedwiga, indem du mich so frägst? so begann Julia sehr ernst und gefaßt. Was ist Dir die Liebe, von der Du sprichst? Nicht wahr, man soll sich hingezogen fühlen zu dem Geliebten, mit solcher unwiderstehlichen Macht, daß man nur ist, nur lebt in dem Gedanken an ihn, daß man sein ganzes Ich aufgibt um ihn, daß er allein uns alles Sehnen, alles Hoffen, alles Verlangen, die ganze Welt dünkt? Und diese Leidenschaft soll die höchste Stufe der Seligkeit gewähren? — Mich schwindelts vor dieser Höhe, denn 262dem Blick hinab gähnt der bodenlose Abgrund, mit allen Schrecknissen des rettungslosen Verderbens, entgegen. Nein, Hedwiga, diese Liebe, die ebenso entsetzlich ist, als sündhaft, hat dies Gemüt nicht erfaßt, und fest will ich halten an dem Glauben, daß es ewig rein, ewig davon frei bleiben wird. Doch wohl mag es sich begeben, daß ein Mann vor allen übrigen in uns die höchste Achtung, ja, bei der männlich eminenten Kraft seines Geistes wahre Bewunderung erregt. Doch noch mehr als das, wir fühlen uns in seiner Nähe von einem gewissen, gemütlichen Wohlbehagen geheimnisvoll durchströmt, erhoben über uns selbst, es scheint, als wenn unser Geist dann erst recht erwache, als wenn uns das Leben dann erst recht leuchte, und so sind wir froh, wenn er kommt, und traurig, wenn er geht. — Nennst Du dieses Liebe? — Nun warum sollte ich es Dir nicht gestehen, daß unser verlorner Kreisler mir dies Gefühl erweckt hat, und daß ich ihn schmerzhaft vermisse.
Julia, rief die Prinzessin plötzlich auffahrend und Julien mit glühendem Blick durchbohrend, kannst Du ihn Dir denken in den Armen einer andern, ohne zu vergehn in namenloser Qual?
Hoch errötete Julia, und mit einem Ton, der erkennen ließ, wie sehr sie sich verletzt fühlte, erwiderte sie: Nie habe ich ihn mir gedacht in meinen Armen! —
Ha! — Du liebst ihn nicht — Du liebst ihn nicht! — so schrie die Prinzessin gellend auf, und sank dann wieder zurück in dem Sofa!
O, sprach Julia, o daß er wiederkehrte! — Rein und schuldlos ist das Gefühl, das ich für den teuern Mann hege in dieser Brust, und sehe ich ihn niemals wieder, so wird der Gedanke an ihn, den Unvergeßlichen, in mein Leben hineinleuchten, wie ein schöner, heller Stern. — Doch gewiß, er kehrt zurück! — Denn wie kann —
Niemals, unterbrach die Prinzessin Julien mit schroffem, schneidendem Ton, kann, darf er wiederkehren, denn wie man vernimmt, befindet er sich in der Abtei Kanzheim und wird, sich der Welt entziehend, in den Orden des heiligen Benedikt treten.
Julien kamen die hellen Tränen in die Augen, sie stand schweigend auf und begab sich an das Fenster.
Deine Mutter hat recht, ganz recht, fuhr die Prinzessin fort. Wohl uns, daß er fort ist, dieser Wahnsinnige, der sich wie ein böser Geist eindrängte in unseres Herzens Rat, der uns in unserm eignen Innern zu zerreißen wußte. — Und die Musik war das Zaubermittel, mit dem er uns umstrickte. — Nie mag ich ihn wiedersehen. —