Der Winternachthimmel war ganz mit Sternen gespickt, ich lief den Schneeberg hinunter, in die Stadt, an die Kasse des Madretscher Stadttheaters, ließ mir eine Fahrkarte verabfolgen und fuhr wie ein geistig nicht mehr Normaler die steinerne, uralte Wendeltreppe hinauf, die ins Stehparterre führte. Das ganze Theater war dickvoll von Menschen, eine schlechte Luft schlug mir unter die Nasenflügel, ich erbebte und versteckte mich hinter einen Technikumsschüler. Ich war ganz atemlos und konnte nun ein wenig verschnaufen, bis der Vorhang in die Höhe ging, das tat er nach etwa zehn Minuten, er erhob sich und ließ in ein Loch voll Feuer blicken. Die Gestalten bewegten sich alsobald, riesige, plastische, übernatürlich scharf gezeichnete Gestalten, und spielten Maria Stuart von Schiller. Königin Maria saß im Kerker, und ihre gute Kammerfrau stand daneben, und dann zeigte sich ein finster aussehender, mit einer Rüstung bedeckter Mann, die Königin brach in Tränen des Zornes und des Schmerzes aus. Wie wundervoll sich das ansah. Meine Augen brannten. Ich hatte vorher stundenlang in den hellen, weißschimmernden Schnee gesehen und dann in das Dunkel der Logen, und jetzt mußten sie in eitel Feuer, Glut, Pracht und Glanz schauen. Wie schön und groß das war. Wie das von den rötlichen Lippen taktmäßig herabtönte, in Uhrmacher-, Techniker- und sonstige Ohren hinein, schöne, edel hin und her und auf und nieder tanzende, schwankende, tönende Verse. Ah, das sind die Verse Schillers, so dachte wohl mancher.
Der junge, schlanke Mortimer, mit einem Busch heller, goldener Locken auf dem Kopf, sprang aus der Szene in die offene Szene hinein und sprach der Königin, die lächelnd zuhörte, verführerische Worte vor. Er hatte ein merkwürdig blaß gefärbtes Gesicht, als sei ihm der ahnungsvolle Schrecken darin gelegen, und schwarzumränderte Augen, als habe er viele vorangegangene Nächte hindurch, von Träumen hin- und hergeschleudert, kein Auge zudrücken können. Er spielte meiner Meinung nach herrlich; nicht so Maria, die ihre Rolle nicht auswendig wußte, die sich eher wie eine Kneipenkellnerin niederster Stufe benahm, als wie eine so vornehme Frau, vornehm im zugespitzt kältesten Sinne: Königin und dazu noch Dulderin, wie man sich Maria Stuart denken mußte. Aber sie rührte unendlich. Das Nichtskönnen rührte in erster Linie und dann jener Mangel an Hoheit. Der Mangel dessen, was sein sollte, erschütterte und blendete und trieb mir das Wasser der Empfindung schamvoll zu den erregten Augen heraus. O du Zauber der theatralischen Bühne. Ich dachte immer: »Wie schlecht sie doch spielt, diese Maria,« und ward im selben Moment von dem unmöglichen Spiel an Leib und Seele hingerissen. Wenn sie etwas Trauervolles sagte, lächelte sie verschmitzt und ganz unpassend dazu, ich korrigierte in Gedanken an ihren Gesichtszügen, Tönen und Bewegungen herum, und indem ich das tat, hatte ich den lebendigeren und ergreifenderen Eindruck von ihrem fehlerhaften Spiel, als ich ihn vor dem tadellosen hätte haben können. Sie war mir so nah auf diese Weise, es war, als würde da oben eine Schwester, Cousine oder Freundin von mir gespielt haben, um deren Äußerungen ich Ursache gehabt hätte, ängstlich zu zittern. Bisweilen stand sie ganz vergnügt und ratlos, also ratlos und doch nicht fassungslos da, sah in den dunkeln Zuschauerraum hinein, zupfte an ihrem Schleier und lächelte ganz keck, ließ das Spiel liegen, während dieses von ihr eine bestimmte Haltung und Empfindung verlangte. Und warum war sie trotzdem wundervoll?
In den Zwischenpausen bog ich meinen Kopf um und blickte in die Logen hinein, in deren einer eine vornehme Dame saß, in ausgeschnittenem Kleid, daß die Brust und die Arme aus der dunkeln Umgebung nur so herausschimmerten. In der behandschuhten Hand hielt sie ein Lorgnon mit langem Stiel, das sie von Zeit zu Zeit an die Augen führte. Sie schien eine alte, doch noch immer berückende Zauberin zu sein, so allein saß sie dort hinten, abgesondert von den übrigen Menschen. Sie wohnte, weiß der Teufel, vielleicht in einem jener graziös erbauten Häuser aus der Zeit Ludwigs von Frankreich, die man in Madretsch häufig hinter den hohen Bäumen alter, verträumter Gärten weiß hervorglänzen sieht. In einer andern Loge hockte der Präsident des Madretscher Gemeinderats und Mitglied des Verwaltungsrats des Stadttheaters, so ein alter Bock, wie man sich zuflüsterte, der es als ein Vergnügen empfand, den Schauspielerinnen unter die Röcke zu greifen. Das ließ sich ja schließlich solch eine herumwandernde Maria Stuart noch ganz gerne gefallen. So sah sie nämlich auch aus auf der Bühne, wie eine Dirne, und nicht einmal wie eine gut-, sondern wie eine minderwertig geartete. Wie kam es, daß sie trotzdem so schön war?
Der Vorhang ging wieder auf. Ein breiter, weißlicher Strom Parfüm floß aus dem offenen Loch in die Zuschauerdunkelkammer und beklemmte und befreite die Nasen. Man war froh, wieder diesen holden Duft einzuziehen; ich hinter meinem Technikumsschüler war es wahrscheinlich ganz besonders. Der Bühnenrachen fing wieder an zu reden, diesmal war die Szene ein Zimmer im königlichen Palast von England. Elisabeth saß auf einem mit blauen Tüchern behangenen Thron, einen Baldachin über sich, vor ihr die Großen des Hofes, Lester und jener andere mit der sanften Denkermiene. Im Hintergrund standen dicke Weibsbilder als Pagen, nicht etwa Knaben, nein, vierzigjährige Weiber in Trikots. Das war schamlos schön. Diese Pagen standen mit der barocken Schwere ihrer gedunsenen Leiber in wahnsinnig kleinen, zierlichen Schuhen auf dem Boden wie unbegreifliche, phantastische Traumfiguren, die ins Publikum hineinlächelten. Es war, als hätten sie sich ein wenig geniert, so auffällig zu sein, aber dann war's wieder nichts mit diesem Genieren. Die Sache verhielt sich so: wer sie ansah, der genierte sich. Ich zum Beispiel genierte mich bis zur Glückseligkeit. Elisabeth stieg dann vom Thron herab, jeder Zoll an ihr lieb und einfach, fast tantlich, mütterlich, sie gab Zeichen von Ungnade, und die Szene verschwand.
Ein wenig später gab es eine Parkszene mit grünem, verschwommenem Waldhintergrund, Jagdhörner tönten in der Ferne in wundervoll fern herklingendem Spiel. Ich glaubte mich augenblicklich in das Dickicht eines Waldes versetzt; die Hände liefen, Pferde stürzten aus dem Laubwerk hervor, schöne, kostbar gekleidete Reiterinnen tragend, und überall sprangen die Knechte und Falkoniere und Pagen, die Jäger in den knappen, grünen Trachten herum. Alles das spiegelte sich ganz natürlich in den paar Fetzen von Dekorationen tönend und leuchtend wieder. Maria, die Königindirne, trat auf und sang, man kennt ja die Worte, nein, sie sang nicht, aber es hörte sich ganz wie ein wehklagendes, sehnsüchtiges Singen an. Die Frau schien eine Riesin geworden zu sein, so sehr vergrößerte sie ihr Seelenausbruch. Sie sprang wie irrsinnig vor Freude und Herzensqual umher, und jammerte, als sie zu jubeln meinte. Außerdem war sie ein bißchen der Rolle wegen, die sie nicht studiert hatte, in Verlegenheit, aber ich glaubte steif und fest, das sei der Wahnsinn des Nicht-mehr-an-sich-halten-Könnens, die Qual der Freiheit, das Versagen der ruhigeren Frauenvernunft. Als sie weinte, da schrie sie, denn weinen wäre ihr zu wenig gewesen. Für nichts, was sie empfand, hatte sie einen entsprechenden Ausdruck mehr. Das Empfinden peitschte seinen Ausdruck. Im Übermaß alles dessen, was sie war und sah und hörte und fühlte, warf sie sich köpflings an die Erde, da trat Elisabeth auf.