Dienstag, 4. Oktober
Nils Holgersson wurde unruhig, weil die Reisenden gar so lange auf dem Aussichtsturm blieben. Der Gänserich Martin konnte seinen Gefährten nicht abholen, solange die Fremden da waren, und der Junge wußte doch, daß die Wildgänse so rasch wie möglich südwärts reisen wollten. Mitten unter der Erzählung war es ihm freilich gewesen, als höre er Gänsegeschnatter und laute Flügelschläge; vielleicht waren das die Wildgänse, die weiterflogen. Aber der Junge hatte nicht an die Brüstung zu treten gewagt, um zu sehen, wie es sich verhielt.
Als die Gesellschaft endlich gegangen war und der Junge sich aus seinem Versteck herauswagen konnte, sah er keine Wildgänse drunten auf dem Boden, und kein Gänserich Martin kam, ihn zu holen. Er rief: „Hier bin ich! Wo bist du?“ so laut er konnte; aber die Reisegefährten zeigten sich nicht. Es fiel ihm zwar keinen Augenblick ein, sie könnten ihn verlassen haben; aber er fürchtete, es sei ihnen ein Unglück zugestoßen, und er überlegte eben, auf welche Weise er sie ausfindig machen könnte, als sich plötzlich der Rabe Bataki neben ihm niederließ.
Der Junge hätte nie gedacht, daß er Bataki jemals mit einem so frohen Willkommen begrüßen würde, wie er jetzt tat. „Lieber Bataki,“ sagte er, „wie herrlich, daß du kommst! Du kannst mir vielleicht sagen, was aus dem Gänserich Martin und aus den Wildgänsen geworden ist.“
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„Jawohl, und ich komme gerade in ihrem Auftrag,“ antwortete der Rabe. „Akka hat einen Jäger auf dem Gebirge umherstreifen sehen, deshalb wagte sie es nicht, auf dich zu warten, sondern ist vorausgeflogen. Setze dich jetzt auf meinen Rücken, dann wirst du gleich wieder bei deinen Freunden sein.“
Der Junge setzte sich eiligst auf Batakis Rücken, und Bataki würde die Wildgänse auch bald eingeholt haben, wenn ihn der Nebel nicht daran verhindert hätte. Aber es war, als hätte die Morgensonne den Nebel wieder geweckt. Kleine, leichte Nebelschleier, die sich verdichteten und mit erstaunlicher Schnelligkeit ausbreiteten, stiegen plötzlich vom See, von den Feldern und aus dem Walde auf, und schon nach ganz kurzer Zeit war die Erde ringsum von weißen, wogenden Nebelmassen verhüllt.
Da droben, wo Bataki flog, war vollständig klare Luft und strahlender Sonnenschein; aber die Wildgänse waren offenbar mitten in den Nebelmassen, da die beiden sie mit keinem Auge entdecken konnten. Der Junge und der Rabe riefen und schrien aus vollem Halse, aber sie erhielten keine Antwort.
„Das ist doch ein rechtes Mißgeschick,“ sagte der Rabe schließlich. „Aber wir wissen ja, in welcher Richtung sie fliegen, und sobald der Nebel sich verzieht, werde ich sie schon ausfindig machen.“
Der Junge war sehr betrübt, daß er gerade jetzt von dem Gänserich Martin getrennt worden war, denn auf der Reise war der große Weiße allen möglichen Gefahren ausgesetzt. Aber nachdem er sich ein paar Stunden lang gegrämt und geängstigt hatte, sagte er sich, es sei ja doch bisher auch kein Unglück geschehen, und deshalb hätte es keinen Sinn, wenn er jetzt schon den Mut sinken ließe.
In diesem Augenblick hörte er drunten auf der Erde einen Hahn krähen, und sogleich neigte er sich über den Rücken des Raben vor und rief: „Wie heißt das Land, über das ich hinfliege? Wie heißt das Land, über das ich hinfliege?“
„Es heißt Härjedal! Härjedal! Härjedal!“ krähte der Hahn.
„Wie sieht es bei euch da drunten aus?“ fragte der Junge.
„Berge im Westen, Wälder im Osten und ein breites Tal durchs ganze Land!“ antwortete der Hahn.
„Schönen Dank! Schönen Dank für die gute Antwort!“ rief der Junge.
Nachdem sie wieder eine Weile geflogen waren, hörte er unter sich im Nebel eine Krähe krächzen.
„Was für Menschen wohnen hier in diesem Lande?“ rief der Junge hinunter.
„Ein prächtiges, gutes Bauernvolk!“ antwortete die Krähe. „Ein prächtiges, gutes Bauernvolk!“
„Was arbeiten sie?“ fragte der Junge. „Was arbeiten sie?“
„Sie treiben Viehzucht und roden den Wald aus!“ krächzte die Krähe zurück.
„Schönen Dank! Schönen Dank für die gute Antwort!“ rief der Junge.
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Kurz darauf hörte er den Gesang eines Menschen durch den Nebel heraufdringen.
„Gibt es irgendeine große Stadt in dieser Landschaft?“ fragte der Junge.
„Was … Was … Wer ruft denn hier?“ rief der Mensch als Antwort.
„Gibt es irgendeine große Stadt in dieser Landschaft?“ wiederholte der Junge.
„Ich will wissen, wer da ruft?“ schrie der Mensch.
„Ja, ich habe mir wohl gedacht, daß ich keinen ordentlichen Bescheid bekäme, wenn ich einen Menschen fragte,“ rief der Junge.
Nach kurzer Zeit verzog sich der Nebel ebenso rasch wieder, wie er aufgetaucht war, und nun sah der Junge, daß Bataki über einem breiten Flußtal hinflog. Es war ein schöner Landstrich mit ebenso hohen Bergen wie im Jämtland, aber am Fuße der Berge war kein fruchtbares, dichtbebautes Land wie dort. Die Ortschaften lagen weit voneinander entfernt, und die Felder waren nur klein. Bataki flog den Fluß in südlicher Richtung entlang, bis er in die Nähe eines Dorfes kam. Da flog er auf ein Stoppelfeld hinunter und ließ den Jungen absteigen.
„Auf diesem Felde hat im Sommer Gerste gestanden,“ sagte Bataki. „Sieh, ob du nicht etwas Eßbares findest.“
Der Junge befolgte den guten Rat, und schon nach ganz kurzer Zeit fand er eine Ähre. Während er die Körner herausschälte und sie verzehrte, fing Bataki ein Gespräch mit ihm an.
„Siehst du das große Gebirge dort, das gerade im Süden vor uns aufragt?“ fragte er.
„Jawohl, ich sehe es deutlich,“ antwortete der Junge.
„Es heißt Sonfjället,“ fuhr der Rabe fort, „und du darfst mir glauben, in den alten Tagen hat es dort viele Wölfe gegeben.“
„Dieses Gebirge muß auch ein guter Schlupfwinkel für sie gewesen sein,“ räumte der Junge ein.
„Ja, für die Leute hier im Tale war es oft sehr schwer, daß sie sich auch noch mit den Wölfen herumschlagen mußten,“ sagte Bataki.
„Weißt du nicht irgendeine gute Geschichte von Wölfen, die du mir erzählen könntest?“ fragte der Junge. Und Bataki erzählte:
„Vor langer, langer Zeit sollen die Wölfe von Sonfjället einmal einen Bauern überfallen haben, der mit einer Ladung Böttchergefäße umherfuhr. Er war von Hede, einem Dorf, das einige Meilen höher droben, als wir uns hier befinden, im Ådal liegt. Es war Winter, und die Wölfe jagten hinter dem Schlitten her, als er eben über das Eis des Ljusnan hinüberfuhr. Es waren ihrer wohl acht bis zehn Stück, und der Bauer hatte kein gutes Pferd, so daß er nicht viel Hoffnung hatte, ihnen entkommen zu können.
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Als der Mann die Wölfe hinter sich heulen hörte und sah, was für ein großes Rudel er im Rücken hatte, verlor er alle Besinnung, und es fiel ihm nicht ein, daß er Kübel, Bottiche und Wannen eiligst von seinem Wagen hätte werfen sollen, um die Last zu erleichtern. Er peitschte nur auf das Pferd los, und dieses lief auch wie noch nie, aber trotzdem kamen die Wölfe immer näher, das merkte der Bauer wohl. Es war eine sehr einsame Gegend, der nächste Hof lag mindestens noch zwei Meilen entfernt, der Bauer konnte nichts anderes erwarten, als daß seine letzte Stunde gekommen sei, und er fühlte, wie ihm vor Entsetzen alle Glieder erstarrten.
Während er so wie gelähmt dasaß, sah er, daß sich zwischen den Tannenbüschen, die auf dem Eis aufgepflanzt waren, um den Weg zu bezeichnen, etwas bewegte. Und als er sah, was es war, wuchs der Schrecken, der ihn schon vorher erfaßt hatte, ins ungeheure.
Aber nicht Wölfe waren es, die ihm da entgegenkamen, sondern ein altes Bettelweib. Sie hieß die Finnen-Malin und war eine rechte Landstreicherin. Sie hinkte ein wenig und hatte überdies einen kleinen Höcker; der Mann konnte sie schon aus der Ferne erkennen.
Die Frau ging gerade auf die Wölfe zu. Offenbar wurden sie durch den Schlitten vor ihr verdeckt, und dem Bauern war es sogleich klar: wenn er an ihr vorüberfuhr, ohne sie zu warnen, dann fiel sie den wilden Tieren unwiederbringlich zur Beute, und während diese die Alte zerrissen, konnte er entkommen. Auf ihren Stock gestützt, hinkte sie langsam daher; ja, sie war unrettbar verloren, wenn er ihr nicht half. Aber wenn er auch anhielt und sie auf den Schlitten nahm, war es durchaus nicht sicher, daß sie gerettet würde; wenn er es tat, war es mehr als wahrscheinlich, daß er von den Wölfen eingeholt würde, und dann wurden alle miteinander, er und die Alte und das Pferd, zerrissen und aufgefressen, und der Bauer fragte sich, ob es nicht am richtigsten wäre, ein Leben zu opfern, um zwei andere zu retten.
Aber damit war es noch nicht genug, er mußte sogleich auch daran denken, wie es ihm wohl nachher selbst gehen würde: Ob er Gewissensbisse bekäme, weil er dem Weib nicht geholfen hatte, ob die Leute erführen, daß er ihr begegnet war und sie im Stiche gelassen hatte?