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45 Bei den Lappen
日期:2020-09-18 16:12  点击:253
Das Begräbnis war vorüber. Die Gäste des Gänsemädchens Åsa waren gegangen, und sie saß allein in der kleinen Hütte, die ihrem Vater gehört hatte. Åsa hatte die Tür verriegelt, um in Ruhe und Frieden an ihren Bruder denken zu können. Sie dachte an alles, was Klein-Mats gesagt und getan hatte, an eins nach dem andern; es war so viel, daß sie ganz vergaß, zu Bett zu gehen, und nicht nur den ganzen Abend, sondern auch noch spät in der Nacht in ihre Gedanken versunken sitzen blieb. Je mehr sie an ihren Bruder dachte, desto deutlicher sah sie, wie schwer es ihr werden würde, ohne ihn weiter zu leben, und schließlich legte sie den Kopf auf den Tisch und weinte bitterlich. „Was soll aus mir werden, wenn ich Klein-Mats nicht mehr habe?“ schluchzte sie.
 
Es war, wie gesagt, schon spät in der Nacht, und das Gänsemädchen Åsa hatte einen anstrengenden Tag hinter sich, deshalb war es nicht verwunderlich, daß sie der Schlaf übermannte, sobald sie den Kopf auf den Tisch sinken ließ. Und ebensowenig verwunderlich war es, daß ihr von Klein-Mats träumte, an den sie immerfort gedacht hatte. Plötzlich war es ihr, als trete Klein-Mats leibhaftig zu ihr ins Zimmer herein und sage: „Åsa, nun mußt du dich aufmachen und unsern Vater suchen.“ Und sie schien zu antworten: „Wie könnte ich das, ich weiß ja nicht einmal, wo ich ihn suchen soll?“
 
„Darüber brauchst du dir keine Sorgen zu machen,“ antwortete Klein-Mats in seiner gewohnten frischen, fröhlichen Art. „Ich will dir jemand schicken, der dir helfen kann.“
 
In demselben Augenblick, wo das Gänsemädchen Åsa also träumte, klopfte es an ihre Kammertür. Und das war ein wirkliches Klopfen, nicht eines, das sie nur im Traume hörte. Aber sie war noch ganz in ihrem Traume befangen und konnte nicht unterscheiden, was Wirklichkeit und was Einbildung war. Als sie nun hinging und die Tür öffnete, dachte sie: „Nun kommt ganz bestimmt der Helfer, den mir Klein-Mats zu schicken versprochen hat.“
 
Hätte nun Schwester Hilma oder irgend ein anderer richtiger Mensch auf der Schwelle gestanden, als Åsa die Tür aufmachte, dann hätte sie gleich gemerkt, daß sie nicht mehr träumte; aber dies war nicht der Fall; der, welcher da draußen stand und geklopft hatte, war gar kein Mensch, es war ein kleiner Knirps, kaum eine Spanne lang. Obgleich so spät in der Nacht, war es doch ebenso hell wie bei Tage, und Åsa erkannte sofort dasselbe Kerlchen, mit dem sie und Klein-Mats auf ihrer Wanderung durch das Land schon ein paarmal [411] zusammengetroffen waren. Damals hatte sie sich vor ihm gefürchtet, und so wäre es ihr auch jetzt gegangen, wenn sie ganz hell wach gewesen wäre. Aber sie hatte das Gefühl, als träume sie noch immer, und deshalb blieb sie ganz ruhig stehen und dachte: „Ich habe nichts anderes erwartet, als daß Klein-Mats diesen meinte, als er sagte, er wolle mir jemand schicken, der mir behilflich sein könne, Vater ausfindig zu machen.“ Und darin hatte sie nicht ganz unrecht, denn der kleine Bursche kam aus keinem anderen Grunde, als wegen ihres Vaters mit ihr zu sprechen. Als er sah, daß sie sich nicht vor ihm fürchtete, teilte er ihr mit wenigen Worten mit, wo ihr Vater sei, und was sie tun müsse, um zu ihm zu gelangen.
 
Aber während der Knirps sprach, kehrte Åsa allmählich das volle Bewußtsein zurück, und als er ausgesprochen hatte, war sie vollständig wach. Und da entsetzte sie sich über die Maßen, – denn hier stand sie ja und sprach mit einem, der nicht ihrer Welt angehörte! Sie brachte kein Wort über die Lippen, ja nicht einmal einen einfachen Dank, sondern wich rasch ins Zimmer zurück und schlug die Tür heftig hinter sich zu. Sie glaubte allerdings noch zu sehen, daß das Gesicht des Kleinen einen sehr betrübten Ausdruck annahm, als sie das tat, aber sie konnte nicht anders. Ganz außer sich vor Entsetzen, kroch sie nun eiligst in ihr Bett und zog die Decke über den Kopf.
 
Und doch, trotzdem sie so große Angst vor dem kleinen Knirps hatte, fühlte sie, daß er es gut mit ihr meinte, und am nächsten Tag verlor sie keine Zeit, das zu tun, was er ihr geraten hatte.
 
Auf dem linken Ufer vom Luossajaure, einem kleinen See, der noch viele Meilen nördlicher liegt als Malmberget, war ein kleines Lappenlager. Am südlichen Ende des Sees ragte ein gewaltiger Berg auf, der Kirunavara heißt und der der Sage nach aus lauter Eisenerz bestehen soll. Auf der nordöstlichen Seite lag wieder ein Berg, der Luossavara heißt, und auch das ist ein an Eisenerz reicher Berg. Zu diesen Bergen hinauf wurde eben die Eisenbahn von Gellivare aus weitergeführt, und in der Nähe von Kirunavara baute man [412] eifrig einen Bahnhof, ein Gasthaus und eine Menge Wohnhäuser für die Arbeiter und Ingenieure, die hier wohnen sollten, wenn die Ausbeutung des Erzes einmal ordentlich in Gang gekommen wäre. Es war ein ganzes Städtchen von hübschen, behaglichen Häusern, das da so hoch droben in diesem nördlich gelegenen Bezirk entstand, wo die kleinen verkrüppelten Birken, die hier überall wuchsen, ihre Blätter erst nach dem Johannisfest entfalten können. Westlich von dem See lag das Land frei und offen da, und dort hatten, wie schon gesagt, ein paar Lappenfamilien ihr Lager aufgeschlagen. Vor ungefähr einem Monat waren sie dahin gekommen und hatten dann nicht viel Zeit gebraucht, ihre Wohnung in Ordnung zu bringen. Zur Herstellung eines guten und ebenen Bauplatzes hatten sie weder Felsen sprengen noch Grundmauern errichten müssen; nachdem sie sich erst einen guten trockenen Platz in der Nähe des Sees ausgewählt hatten, brauchten sie nichts weiter zu tun, als etwas Weidengebüsch wegzuhauen und ein paar Erdhügel zu ebnen, und damit war der Bauplatz hergestellt.
 
Und dann machten sie sich durchaus keine Sorgen über alles, was zum Bau eines Hauses nötig ist. Sie hatten nicht viele Tage lang gehauen und gehämmert und gezimmert, bis die Holzwände gesichert dastanden; ebensowenig hatten sie sich Mühe mit dem Aufrichten des Daches gegeben und sich auch nicht den Kopf zerbrochen, wie das Haus innen mit Brettern getäfelt, Fenster und Türen eingesetzt und Schlösser und Riegel angebracht würden. Sie brauchten nichts weiter, als ihre Zeltstangen fest in den Boden hineinzuschlagen und die Zeltdecke darüber zu hängen, und dann war die Wohnung schon so gut wie fertig. Auch das Einziehen und Einrichten machte ihnen recht herzlich wenig Mühe. Das Wichtigste war, einige Fichtenzweige und ein paar Felle auf dem Boden auszubreiten und an eine eiserne Kette, die oben an den Zeltstangen befestigt wurde, den großen Kessel zu hängen, in dem sie sich ihr Renntierfleisch zu kochen pflegten.
 
Die Ansiedler auf der östlichen Seite des Sees, die aus Leibeskräften arbeiteten, ihre Häuser vor Beginn des strengen Winters fertig zu bringen, verwunderten sich sehr über die Lappen, die nun schon seit vielen, vielen hundert Jahren hier oben in dem kalten Norden umherstreiften, ohne je zu denken, man könnte einen anderen Schutz vor Sturm und Kälte nötig haben als dünne Zeltwände. Und die Lappen wunderten sich ihrerseits über die Ansiedler, die sich diese ganze schwierige und mühselige Arbeit machten, wenn doch der Besitz von einigen Renntieren und eines Zeltes zur Erhaltung des Lebens genügte.
 
An einem Nachmittag im Juli regnete es da droben am Luossajaure ganz fürchterlich, und die Lappen, die sonst zur Sommerzeit fast die ganzen Tage und Nächte im Freien zubrachten, waren alle miteinander in einem Zelte zusammengekrochen; da kauerten sie ums Feuer und tranken Kaffee.
 
Während sie sich so bei dem Kaffeetopf ganz vergnüglich unterhielten, kam von der Kirunaer Seite ein Boot über den See herübergerudert und legte bei dem Lappenlager an. Aus dem Boot stieg ein Arbeiter mit einem Mädchen, [413] das dreizehn bis vierzehn Jahre alt sein mochte. Die Hunde der Lappen rannten den beiden mit heftigem Bellen entgegen, und einer der Lappen steckte den Kopf aus der Zeltöffnung heraus, um zu sehen, was es gäbe. Er war sehr erfreut, als er den Arbeiter sah, denn dieser war ein guter Freund von den Lappen, ein freundlicher, redseliger Mann, der sich in der Lappensprache unterhalten konnte. Der Lappe rief ihm auch gleich zu, er solle nur zu ihnen ins Zelt hereinkriechen.
 
 
„Du kommst wie gerufen, Söderberg,“ sagte er. „Der Kaffeekessel hängt über dem Feuer. Bei diesem Regenwetter kann man nichts anderes tun. Komm nur herein und erzähl uns etwas Neues aus der Welt draußen!“
 
Der Arbeiter kroch zu den Lappen hinein; und mit viel Mühe und unter eitel Lachen und Scherzen wurde ihm und dem Mädchen in dem kleinen Zelt, das schon vorher gepfropft voll von Menschen war, noch Platz gemacht, und dann fing der Mann sogleich an, lappisch mit seinen Wirten zu sprechen. Indessen saß das Mädchen, das mit ihm gekommen war und von der Unterhaltung nichts verstand, ganz still da und betrachtete erstaunt den Fleischkessel und den Kaffeetopf, das Feuer und den Rauch, die Lappen und die Lappenfrauen, die Kinder und Hunde, die Wände und den Boden, die Kaffeetassen und die Tabakspfeifen, die bunten Kleider und die geschnitzten Geräte, – nichts, gar nichts war so, wie sie es gewohnt war.
 
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Aber plötzlich gab sie das Umherschauen auf und schlug die Augen nieder, denn sie fühlte, daß alle im Zelte sie ansahen. Söderberg mußte etwas von ihr erzählt haben, denn jetzt nahmen die Männer und Weiber ihre kurzen Tabakspfeifen aus dem Munde und starrten sie an. Der ihr zunächst sitzende Lappe klopfte ihr auf die Schulter und sagte auf schwedisch: „Gut, gut!“ Ein Lappenweib schenkte eine große Tasse Kaffee ein, die ihr mit vieler Mühe hinübergereicht wurde, und ein Lappenjunge von ungefähr demselben Alter wie das Mädchen schlängelte sich zwischen die Dasitzenden durch, bis er ganz nahe zu dem Mädchen hingekommen war. Da blieb er liegen und sah sie nur immer an.
 
Das Mädchen erriet, wovon die Rede war: gewiß hatte Söderberg erzählt, wie sie das feierliche Begräbnis für Klein-Mats zustande gebracht hatte; aber sie wünschte innig, er möchte nicht soviel von ihr erzählen, sondern lieber die Lappen fragen, ob sie nichts von ihrem Vater wüßten. Der kleine Knirps hatte ihr gesagt, er halte sich bei den Lappen auf, die ihr Lager westwärts vom Luossajaure aufgeschlagen hätten, und da hatte sie gebeten, man möchte sie mit einem der Züge, die Material zum Eisenbahnbau hinaufbrachten, hinfahren lassen – denn richtige Züge gingen noch nicht auf dieser Bahn –, damit sie ihren Vater suchen könne. Alle miteinander, Aufseher und Arbeiter, waren ihr nach Kräften behilflich gewesen, und ein Ingenieur in Kiruna hatte jetzt Söderberg, der lappisch sprechen konnte, mit ihr über den See hinübergeschickt, dort sollte er sich für sie nach ihrem Vater erkundigen. Sie hatte gehofft, sie würde ihn da treffen, sobald sie angekommen wäre, und sie hatte auch gleich ihren Blick prüfend von einem Gesicht zum andern im ganzen Zelt herumgleiten lassen. Aber ach, alle diese Gesichter gehörten dem Lappenvolk an, der Vater war nicht da!
 
Je länger Söderberg mit den Lappen sprach, desto ernster wurden alle; Åsa sah es wohl. Die Lappen schüttelten die Köpfe und klopften sich an die Stirne, als wenn sie von jemand sprächen, der nicht ganz bei Verstand sei. Dies beunruhigte Åsa sehr, sie konnte nicht mehr ruhig zuhören und zuwarten und fragte deshalb Söderberg, was die Lappen von ihrem Vater wüßten.
 
„Sie sagen, er sei auf dem Fischfang,“ antwortete der Arbeiter, „und sie wüßten nicht, ob er heute abend zurückkomme. Aber sobald das Wetter wieder etwas besser ist, will einer von ihnen sich aufmachen und ihn suchen.“
 
Hierauf wendete sich Söderberg wieder an die Lappen und sprach aufs neue eifrig mit ihnen. Er wollte offenbar nicht, daß Åsa noch mehr Fragen über ihren Vater an ihn richte.
 
Am nächsten Tage war sehr schönes Wetter. Ola Serka, der Vornehmste unter den Lappen, hatte gesagt, er wolle sich selbst auf die Suche nach Åsas Vater machen. Aber er beeilte sich durchaus nicht; ruhig hockte er noch vor dem Zelte, dachte an Jon Assarsson und überlegte, wie er ihm die Nachricht von der Ankunft seiner Tochter beibringen sollte. Es handelte sich nämlich darum, ihm die Nachricht so mitzuteilen, daß er nicht erschrak und entfloh, denn [415] er war ein sehr eigentümlicher Mann, der sich ängstlich hütete, mit Kindern zusammenzutreffen. Er pflegte zu sagen, er bekomme gar so trübe Gedanken, wenn er Kinder sehe, und das könne er nicht ertragen.
 
Während Ola Serka über seine Aufgabe nachdachte, saßen Åsa und Aslak, der Lappenjunge, der am vorhergehenden Abend das Mädchen so unverwandt angeschaut hatte, auf dem freien Platze vor dem Zelte und plauderten miteinander. Aslak war in die Schule gegangen und konnte schwedisch sprechen. Er erzählte Åsa von dem Leben seines Volkes und versicherte ihr, ihnen ginge es besser als allen anderen Menschen. Åsa dagegen fand, daß es ihnen schrecklich schlecht gehe, und sie sagte ihm das auch.
 
„Du weißt nicht, was du sprichst,“ erwiderte Aslak. „Bleibe nur eine Woche lang bei uns, dann wirst du selbst sehen, daß wir das glücklichste Volk auf der ganzen Welt sind.“
 
„Wenn ich eine Woche hier bliebe, würde ich wahrscheinlich in euerm Zelt vor lauter Rauch ersticken,“ sagte Åsa.
 
„Das darfst du nicht sagen,“ erwiderte der Lappenjunge. „Du weißt ja gar nichts von uns. Ich will dir eine Geschichte erzählen, daraus kannst du ersehen, daß es dir immer besser bei uns gefallen würde, je länger du hier bliebest.“
 
Und dann fing Aslak an, Åsa von der Zeit zu erzählen, wo die große Krankheit, die der schwarze Tod genannt wurde, durchs Land gezogen war. Er wußte nicht, ob sie hier oben im richtigen Lappland, wo sie sich jetzt befanden, gewütet hatte, aber in Jämtland hatte sie ganz fürchterlich gehaust. Von den Lappen, die da in den Wäldern und Gebirgen wohnten, waren bis auf einen einzigen Jungen von fünfzehn Jahren alle gestorben, und von den Schweden, die in den Tälern wohnten, war niemand verschont geblieben als ein Mädchen, das auch ungefähr fünfzehn Jahre alt war.
 
„Der Junge und das Mädchen waren einen ganzen Winter hindurch in dem verlassenen Lande umhergezogen, um andere Menschen zu finden,“ erzählte Aslak weiter. „Und gegen das Frühjahr stießen sie endlich aufeinander. Da bat das schwedische Mädchen den Lappenjungen, mit ihr südwärts zu ziehen, damit sie wieder zu Leuten aus ihrem Stamme komme. Sie wolle nicht in Jämtland bleiben, wo nur verlassene, ausgestorbene Höfe seien.
 
‚Ich will dich führen, wohin du willst,‘ sagte der Junge, ‚aber nicht vor dem Winter. Jetzt ist es Frühling, meine Renntiere ziehen westwärts ins Gebirge hinauf, und du weißt, wir vom Lappenvolke müssen dahin gehen, wohin uns unsere Renntiere führen!‘
 
Das schwedische Mädchen war das Kind reicher Eltern. Sie war gewohnt, in einem Hause zu wohnen, in einem Bett zu schlafen und an einem Tische zu essen. Bis jetzt hatte sie das arme Gebirgsvolk immer verachtet, und sie meinte, die Menschen, die unter freiem Himmel schliefen, müßten sehr unglücklich sein. Aber sie fürchtete sich vor der Rückkehr in ihre Heimat, wo alles ausgestorben war.
 
[416]
 
‚So laß mich wenigstens mit dir in die Berge hinaufziehen,‘ sagte sie zu dem Jungen, ‚dann muß ich doch nicht hier allein sein, wo ich nie eine menschliche Stimme vernehme.‘
 
Der Junge ging gern darauf ein, und so zog das Mädchen mit den Renntieren hinauf ins Gebirge. Die Herde sehnte sich nach den guten Bergweiden und legte jeden Tag ein großes Stück Weges zurück. Es blieb den beiden keine Zeit, ein Zelt aufzuschlagen; nur in den Stunden, wo die Renntiere anhielten, um zu weiden, konnten sie sich auf den Schnee werfen und ein wenig schlafen. Die Tiere fühlten den Südwind durch ihre Pelze wehen, und sie fühlten auch, daß er in wenigen Tagen den Schnee von den Berghängen wegfegen würde. Das Mädchen und der Junge mußten ihnen durch schmelzenden Schnee und brechendes Eis hindurch nacheilen. Als sie endlich hoch ins Gebirge hinaufgekommen waren, wo der Nadelwald aufhörte und die verkrüppelten Birken anfingen, ruhten sie sich einige Wochen aus, bis der Schnee von den obersten Berghalden geschmolzen war; dann zogen sie da hinauf. Das Mädchen jammerte und keuchte und sagte sehr oft, sie sei müde, sie wolle umkehren und wieder ins Tal hinunter; aber sie ging doch noch lieber mit, als daß sie allein, ohne eine lebende Seele, mit der sie ein Wort hätte sprechen können, zurückgeblieben wäre.
 
Als sie endlich die Hochebene erreicht hatten, schlug der Junge auf einem schönen grünen Platz, der gegen einen Gebirgsbach sanft abfiel, ein Zelt für das Mädchen auf. Als es Abend wurde, fing der Junge die Renntierkühe mit einer Wurfleine ein, melkte sie und gab dem Mädchen von der Milch zu trinken. Er fand auch etwas Renntierkäse und getrocknetes Renntierfleisch, das sein Volk im vorigen Jahre da oben auf der Höhe versteckt hatte. Aber das Mädchen jammerte immerfort und war durchaus nicht zufrieden. Sie wollte weder getrocknetes Renntierfleisch essen, noch Renntiermilch trinken. Sie konnte sich nicht daran gewöhnen, im Zelt auf dem Boden oder nur auf einem von wenigen Zweigen und einem Renntierfell hergerichteten Lager zu schlafen. Aber der Sohn des Gebirgsvolkes lachte nur über ihr Gejammer und war immer gut und freundlich gegen sie.
 
Nachdem so einige Tage vergangen waren, trat das Mädchen zu dem Jungen, als er eben die Renntiere melkte, und fragte, ob sie ihm helfen dürfe. Sie übernahm es jetzt auch, Feuer unter dem Kessel anzuzünden, wenn Renntierfleisch gekocht werden sollte, sowie Wasser zu holen und Käse zu bereiten. Nun hatten die beiden eine schöne Zeit miteinander. Das Wetter war warm und das Essen leicht zu beschaffen. Sie zogen miteinander aus, Vogelschlingen zu legen, Forellen in den Bächen zu fangen und Multebeeren auf den Mooren zu pflücken.
 
Als der Sommer zu Ende ging, zogen sie bis zu der Grenze zwischen dem Nadel- und dem Laubholzwald vom Gebirge herunter, und da schlugen sie wieder ihr Lager auf. Es war jetzt Schlachtzeit, und sie mußten alle Tage sehr streng arbeiten; aber es war auch eine gute Zeit, denn jetzt konnten sie [417] sich noch leichter Nahrung verschaffen als im Sommer. Als der Schnee vom Himmel herabwirbelte und sich die Seen allmählich mit Eis bedeckten, zogen die Kinder ostwärts in den dichten Fichtenwald hinein. Sobald sie da ihr Zelt errichtet hatten, machten sie sich an die Winterarbeiten. Der Junge lehrte das Mädchen Faden aus Renntiersehnen drehen, die Felle bereiten und Kleider und Schuhe daraus nähen, sowie Kämme und Werkzeuge aus Renntierhörnern verfertigen, auf Schneeschuhen laufen und in Renntierschlitten fahren. Nachdem sie den dunkeln Winterwald hinter sich hatten und die Sonne allmählich wieder warm schien, sagte der Junge zu dem Mädchen, jetzt wolle er sie in den Süden des Landes begleiten, damit sie die Leute ihres eigenen Stammes wiederfinde.
 
Doch da sah ihn das Mädchen verwundert an. ‚Warum willst du mich fortschicken?‘ fragte sie. ‚Sehnst du dich, wieder allein mit deinen Renntieren zu sein?‘
 
‚Ich glaubte, du sehntest dich fort von hier,‘ erwiderte der Junge.
 
‚Jetzt habe ich fast ein ganzes Jahr lang das Leben des Lappenvolkes gelebt,‘ sagte das Mädchen, ‚nun kann ich nicht mehr zu meinem Volk zurückkehren. Nachdem ich so frei auf den Bergen und in den Wäldern umhergezogen bin, ist es mir nicht mehr möglich, in engen Häusern zu wohnen. Jage mich nicht fort, sondern laß mich hier bleiben, denn euer Leben ist besser als das unsrige.‘
 
Und das Mädchen blieb ihr ganzes Leben lang bei dem Jungen und hatte niemals Heimweh nach ihrem Volke und nach dem Leben in den Tälern. Und wenn du, Åsa, nur einen Monat hier oben bliebest, würdest du dich auch nicht wieder von uns trennen können.“
 
Mit diesen Worten schloß Aslak seine Erzählung, und in demselben Augenblick nahm Ola Serka die Pfeife aus dem Munde und stand auf. Der alte Ola verstand mehr schwedisch, als er andere wissen lassen wollte, und er hatte verstanden, was der Sohn gesagt hatte. Und während er zugehört hatte, war ihm plötzlich klar geworden, auf welche Weise er Jon Assarsson mitteilen müsse, daß seine Tochter gekommen sei, ihn zu suchen.
 
Ola Serka ging hinunter an den Luossajaure und wanderte dort eine Strecke dem Ufer entlang, bis er einen Mann traf, der auf einem Stein saß und fischte. Der Fischer hatte graues Haar und eine gebeugte Haltung. Seine Augen sahen müde drein; etwas Schlaffes und Hilfloses lag über dem ganzen Manne, er sah aus, wie jemand, der versucht hat, eine Last zu tragen, die ihm zu schwer war, oder wie einer, der über etwas nachgrübelte, das ihm zu schwierig zu lösen war, und der nun gebrochen und mutlos geworden ist, eben weil ihm die Sache nicht glücken wollte.
 
„Du hast offenbar Glück bei deinem Fischfang gehabt, Jon, da du die ganze Nacht hier sitzen geblieben bist,“ sagte der Gebirgsbewohner in lappischer Sprache und trat näher.
 
Der andre fuhr zusammen und schaute auf. Der Köder an seiner Angel war [418] verschwunden, und neben ihm lag nicht ein einziger Fisch. Hastig befestigte er einen neuen Köder an der Angel und warf dann die Schnur wieder aus. Indessen setzte sich Ola neben ihm ins Gras.
 
„Ich möchte gern etwas mit dir besprechen,“ begann der Lappe. „Du weißt, ich hab eine Tochter gehabt, die im vorigen Jahre gestorben ist, und seitdem habe ich sie in meinem Zelte bitter vermißt.“
 
„Ja, das weiß ich,“ erwiderte der Fischer kurz, als könnte er es nicht ertragen, an ein verstorbenes Kind erinnert zu werden; er sprach gut lappisch.
 
„Aber es nützt nichts, wenn man sein Leben vertrauert,“ fuhr der Lappe fort.
 
„Nein, es nützt gar nichts.“
 
„Und deshalb hab ich gedacht, ich wolle ein anderes Kind annehmen. Meinst du nicht, das sei ein guter Gedanke?“
 
„Es kommt darauf an, was es für ein Kind ist, Ola.“
 
„Ich will dir erzählen, was ich über das Mädchen weiß, Jon,“ sagte Ola.
 
Und nun erzählte er dem Fischer, in diesem Sommer seien zwei Kinder, ein Junge und ein Mädchen, nach Malmberget gekommen, ihren Vater zu suchen, und als sie gehört hatten, daß der Vater abwesend war, seien sie dort geblieben, seine Rückkehr abzuwarten. Aber während sie sich in Malmberget aufhielten, sei der Junge durch einen Felsblock bei einer Sprengung ums Leben gekommen, und da habe das Mädchen ihm ein feierliches Begräbnis, gerade wie für einen Erwachsenen gehalten.
 
Hierauf beschrieb Ola sehr schön, wie das arme kleine Mädchen alle Menschen dazu gebracht habe, daß sie ihr geholfen hätten, ja, daß sie sogar den Mut gehabt habe, selbst zum Inspektor zu gehen.
 
„Ist es dies Mädchen, das du zu dir nehmen willst, Ola?“ fragte der Fischer.
 
„Ja,“ antwortete der Lappe. „Als wir ihre Geschichte hörten, haben wir alle weinen müssen; alle haben darin übereingestimmt, daß eine so gute Schwester gewiß auch eine gute Tochter abgeben werde, und wir haben jetzt nur den einen Wunsch, daß sie zu uns komme.“
 
Der andere schwieg eine Weile und setzte dann auch die Unterhaltung offenbar nur fort, um seinem Freunde, dem Lappen, eine Freude zu machen.
 
„Und das Mädchen gehört doch wohl deinem eigenen Stamme an?“
 
„Nein, es gehört nicht zum Lappenvolke.“
 
„Dann ist sie doch wohl die Tochter eines Ansiedlers, die an das Leben hier oben im Norden gewöhnt ist?“
 
„Nein, sie stammt weit aus dem Süden drunten,“ sagte Ola und sah dabei aus, als habe das gar nichts mit der Sache zu tun.
 
Aber jetzt wurde der Fischer aufmerksam. „Dann solltest du sie nicht bei dir behalten, Ola,“ sagte er. „Wenn sie nicht von Geburt daran gewöhnt ist, kann sie den Winteraufenthalt in so einem Lappenzelt gewiß nicht ertragen.“
 
„Sie bekommt gute Eltern und gute Geschwister in diesem Lappenzelt,“ fuhr Ola hartnäckig fort. „Alleinstehen ist schlimmer als frieren.“
 
Aber jetzt wurde der Fischer immer eifriger, die Sache zu verhindern. Es [419] war, als könne er den Gedanken nicht ertragen, daß ein Kind, das schwedische Eltern hatte, bei den Lappen wohnen sollte.
 
„Hast du nicht gesagt, das Mädchen habe einen Vater in Malmberget?“
 
„Er ist tot,“ versetzte der Lappe kurz.
 
„Weißt du das aber auch ganz gewiß, Ola?“
 
„Was braucht man da noch zu fragen,“ erwiderte der Lappe verächtlich. „Hätten die beiden Kinder wohl nötig gehabt, allein durchs ganze Land zu ziehen, wenn ihr Vater noch am Leben wäre? Wäre es denkbar, daß zwei kleine Kinder selbst für sich hätten sorgen müssen, wenn sie einen Vater hätten? Hätte das Mädchen den schweren Gang zum Inspektor selbst machen müssen, wenn ihr Vater noch lebte? Meinst du, sie wäre dann jetzt auch nur einen einzigen Augenblick allein und verlassen, jetzt, wo das ganze Sameland davon spricht, was für ein gutes, mutiges Mädchen sie sei? Das Mädchen selbst meint freilich, ihr Vater sei noch am Leben, ich aber sage, er muß tot sein, es ist nicht anders möglich.“
 
Der Mann mit den müden Augen wendete sich dem Lappen zu. „Wie heißt sie, Ola?“ fragte er.
 
Der Lappe überlegte ein wenig, dann sagte er: „Ich weiß es nicht mehr, aber ich will sie fragen.“
 
„Sie fragen? Ja, ist sie denn schon hier?“
 
„Ja, sie ist drüben im Zelte.“
 
„Wie, Ola? Hast du sie zu dir genommen, ehe du weißt, was ihr Vater dazu sagen wird?“
 
„Was brauche ich mich um ihren Vater zu kümmern? Wenn er wirklich nicht tot ist, dann will er offenbar nichts von dem Kinde wissen, und er kann nur froh sein, wenn ein anderer sich ihrer annehmen will.“
 
Doch jetzt warf der Fischer seine Gerte weg und richtete sich auf; es war eine Lebhaftigkeit über ihn gekommen, als wenn neues Leben in ihm erwacht wäre.
 
„Dieser Vater ist wahrscheinlich nicht wie andere Menschen,“ fuhr der Lappe fort. „Vielleicht ist er einer von denen, die von schwermütigen Gedanken verfolgt werden, so daß er es bei keiner Arbeit lange aushalten kann. Aber sage selbst, wäre ein solcher Vater ein großer Gewinn für das Mädchen?“
 
Während Ola dies sagte, stand der Fischer auf und ging mit raschen Schritten dem Ufer entlang.
 
„Wohin willst du?“ fragte der Lappe.
 
„Ich will mir deine Pflegetochter ansehen, Ola.“
 
„Das ist recht,“ sagte Ola. „Komm nur und sieh sie dir an. Du wirst gewiß finden, daß ich eine gute Pflegetochter bekomme.“
 
Der Schwede ging mit immer rascheren Schritten vorwärts, und der alte Ola konnte ihm kaum nachkommen. Nachdem sie eine kleine Strecke zurückgelegt hatten, sagte Ola zu seinem Gefährten: „Jetzt eben fällt mir ein, wie das Mädchen heißt. Åsa Jontochter heißt sie.“
 
Der andre beschleunigte seine Schritte nur noch mehr, und der alte Ola [420] war so beglückt, daß er am liebsten in lauten Jubel ausgebrochen wäre. Als nach einer Weile die Zelte vor ihren Augen auftauchten, ergriff Ola noch einmal das Wort.
 
„Sie ist hier heraufgekommen, um ihren Vater zu suchen, nicht, um meine Pflegetochter zu werden; aber wenn sie den Vater nicht findet, möchte ich sie gerne in meinem Zelt behalten.“
 
Doch der andre erwiderte nichts, er eilte nur mit immer größerer Hast vorwärts.
 
„Ich habe es mir doch gedacht, daß er bei der Nachricht, ich wolle seine Tochter unter die Lappen aufnehmen, erschrecken werde,“ sagte Ola vor sich hin.
 
Als der Mann von Kiruna, der Åsa nach dem Lappenlager hinübergerudert hatte, später am Tage wieder zurückruderte, hatte er zwei Personen in seinem Boot, die dicht nebeneinander saßen und sich so fest an der Hand hielten, als ob sie sich nie wieder trennen wollten. Es waren Jon Assarsson und seine Tochter Åsa. Alle beide hatten jetzt ein ganz anderes Aussehen als noch vor ein paar Stunden. Jon Assarsson sah lange nicht mehr so müde und gebeugt aus, und seine Augen hatten einen hellen, freundlichen Ausdruck, als wenn er jetzt Antwort auf das bekommen hätte, was ihn so lange geängstigt hatte; und das Gänsemädchen Åsa schaute jetzt nicht mehr mit dem ihm eigenen altklugen Blick umher. Jetzt hatte sie ja jemand, auf den sie sich stützen und verlassen konnte, und es sah aus, als sei sie auf dem Wege, wieder ein harmloses Kind zu werden.
 
 

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