Klein-Mats war tot. Allen, die ihn noch vor ein paar Stunden frisch und froh gesehen hatten, erschien es unglaublich; aber leider war es doch so. Klein-Mats war tot und mußte begraben werden.
Klein-Mats starb eines Morgens in aller Frühe, und außer seiner Schwester Åsa war niemand beim Sterben anwesend.
„Rufe niemand herbei,“ sagte Klein-Mats, als es dem Ende zuging. Und die Schwester tat nach seiner Bitte. „Ich bin so froh, daß ich nicht an der Krankheit sterbe, Åsa,“ sagte Klein-Mats. „Du nicht auch?“ Und als die Schwester nichts erwiderte, fuhr er fort: „Ich mache mir gar nichts aus dem Sterben, wenn ich nur nicht auf dieselbe Weise sterben muß wie die Mutter und unsere Geschwister. Wenn das geschehen wäre, hättest du den Vater wohl kaum überzeugen können, daß die anderen nur von einer gewöhnlichen Krankheit hinweggerafft worden sind; aber du wirst sehen, jetzt gelingt es dir.“
Als alles vorüber war, blieb Åsa noch lange neben dem toten Bruder sitzen und dachte darüber nach, was der kleine Bruder während seines Lebens hatte durchmachen müssen. Und dabei dachte sie, er habe in der Tat alles Unglück und Ungemach mit dem Mut eines erwachsenen Menschen getragen. Seine letzten Worte fielen ihr ein. Wie tapfer war er doch immer gewesen! Sie war sich vollständig klar darüber, daß Klein-Mats, wenn er nun begraben wurde, mit [402] ganz denselben Ehren in die Erde versenkt werden müsse, wie ein erwachsener Mensch.
Sie unterschätzte zwar die Schwierigkeit, das durchzusetzen, durchaus nicht; aber sie wünschte es eben von ganzem Herzen, und für Klein-Mats wollte sie das Äußerste versuchen.
Das Gänsemädchen Åsa befand sich um diese Zeit hoch droben in Lappland, bei dem großen Grubenfeld, das Malmberget genannt wird. Es war merkwürdig, daß sie sich gerade dort befand, aber es war vielleicht ganz gut so für sie.
Klein-Mats und seine Schwester waren durch große endlose Wälder gewandert, bis sie endlich hierher gelangt waren. Mehrere Tage lang hatten sie weder Äcker noch Gehöfte gesehen, nichts als kleine Posthäuser, bis sie schließlich ganz unvermutet an dem großen Friedhof von Gellivare angekommen waren.
Dieses Dorf lag mit seiner Kirche, seinem Bahnhof, mit Rathaus, Bank, Apotheke und Gasthaus am Fuß eines hohen Berges, auf dem noch jetzt mitten im Sommer helle Streifen Schnee schimmerten. Die Häuser in Gellivare waren fast alle noch ganz neu und gut und ordentlich gebaut. Wenn die Kinder nicht den Schnee auf den Bergen und die noch vollständig kahl dastehenden Birken gesehen hätten, wäre ihnen Gellivare gar nicht wie ein hoch droben in Lappland liegender Ort vorgekommen. Und doch war Gellivare noch nicht der Ort, wo ihr Vater zu finden sein sollte, es war vielmehr Malmberget, das noch eine Strecke weiter nördlich lag, und dort hätte es sicher nicht so ordentlich ausgesehen wie hier in Gellivare.
Das aber hatte folgenden Grund. Obgleich die Menschen schon lange gewußt hatten, daß sich in der Nähe von Gellivare sehr viel Eisenerz fand, war doch die Ausbeutung erst vor einigen Jahren richtig in Gang gekommen, nachdem die Eisenbahn fertig geworden war. Dann aber strömten mehrere tausend Menschen auf einmal hinauf, und es war auch Arbeit genug für sie da, nur fehlte es an Häusern, und diese mußten sie sich nun, so gut es eben ging, in aller Eile herstellen; die einen zimmerten sich aus unbehauenen Balken Hütten zusammen, andere wohnten in Schuppen, die sie sich aus Kisten und leeren Dynamitdosen bauten, die sie wie Backsteine aufeinander legten. Jetzt waren allmählich ziemlich viele ordentliche Häuser entstanden, aber der ganze Ort sah jedenfalls höchst merkwürdig aus. Da waren große Viertel mit schönen, hellen Häusern, aber dazwischen stieß man plötzlich auf ungerodeten Waldboden mit Baumstümpfen und Steinblöcken. Die Inspektoren und Ingenieure hatten schöne große Wohnhäuser, und daneben waren niedrige komische Baracken, die von der ersten Zeit her noch dastanden. Überdies gab es Eisenbahnen, elektrisches Licht und große Maschinenhäuser. Durch einen mit Glühlichtern erhellten Tunnel konnte man tief ins Gebirge hineinfahren; überall herrschte ein gewaltiges Treiben, und ein mit Eisenerz schwerbeladener Zug um den andern fuhr vom Bahnhof ab. Aber ringsumher lag noch das große Ödland, wo noch kein Acker bestellt, noch kein Haus gebaut wurde, wo niemand anders wohnte als Lappen, die mit ihren Renntieren umherzogen.
[403]
Jetzt saß Åsa bei der Leiche ihres Bruders und dachte daran, daß es im Leben gerade so zugehe, wie hier an diesem Orte. Meistens ging es ja wohl ordentlich und friedlich zu; aber sie hatte doch auch hier dies und jenes gesehen, was wild und seltsam war, und sie hatte das Gefühl, daß es vielleicht hier leichter anginge als an anderen Orten, etwas durchzusetzen, was außerhalb des Gewöhnlichen lag.
Sie dachte daran, wie es ihnen ergangen war, als sie nach Malmberget gekommen und nach einem Arbeiter gefragt hatten, der Jon Assarsson heiße und zusammengewachsene Augenbrauen habe. Diese zusammengewachsenen Augenbrauen fielen einem bei dem Vater zuerst auf. Dadurch konnten sich die Leute sehr leicht an ihn erinnern, und die Kinder erfuhren auch sogleich, daß ihr Vater mehrere Jahre lang in Malmberget gearbeitet habe, jetzt aber auf der Wanderschaft sei. Sobald die Unruhe über ihn komme, streife er planlos umher. Wohin er gegangen war, wußte niemand, aber alle waren fest überzeugt, er werde in ein paar Wochen wieder zurückkommen. Und wenn die beiden Jon Assarssons Kinder seien, könnten sie ja, während sie auf den Vater warteten, wohl in seiner Hütte wohnen. Eine Frau hatte dann den Hausschlüssel unter der Türschwelle hervorgezogen und die Kinder eintreten lassen. Niemand verwunderte sich über ihr Kommen, aber ebensowenig schien sich jemand darüber zu verwundern, daß der Vater bisweilen zwecklos in der Einöde umherwanderte. Hier oben waren sie wohl daran gewöhnt, daß jeder nach seinem eigenen Kopf handelte.
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Åsa war gleich mit sich im reinen, wie Klein-Mats Begräbnis gehalten werden sollte. Am vergangenen Sonntag hatte sie dem Begräbnis eines Grubenaufsehers beigewohnt. Der Sarg war von den eigenen Pferden des Inspektors in die Kirche nach Gellivare gefahren worden, und ein langer Zug Grubenarbeiter war hinter dem Sarge hergegangen. Am Grabe hatte eine Musikkapelle gespielt und ein Singchor gesungen. Und nach dem Begräbnis waren alle, die mit in der Kirche gewesen waren, in die Schule zum Kaffee eingeladen gewesen. So etwas Ähnliches wünschte das Gänsemädchen Åsa für ihren Bruder Klein-Mats.
Sie hatte sich schon so lebhaft in die Sache hineingelebt, daß sie den ganzen Leichenzug fast schon vor sich sah; aber dann sank ihr der Mut wieder, und sie sagte sich, es werde doch wohl nicht so sein können, wie sie es wünschte. Nicht weil es zu teuer gewesen wäre; sie und Klein-Mats hatten sich viel Geld erspart, und sie konnte dem Bruder ein so schönes Begräbnis verschaffen, wie nur jemand wünschen konnte. Die Schwierigkeit lag ganz wo anders. Erwachsene Menschen, das wußte Åsa, wollten sich nie nach einem Kinde richten, und Åsa war ja nur ein paar Jahre älter als Klein-Mats, der jetzt, wo er tot neben ihr lag, gar so klein und mager aussah. Und Åsa war ja selbst noch ein Kind.
Die erste, mit der Åsa des Begräbnisses wegen sprach, war die Krankenpflegerin. Schwester Hilma kam, kurz nachdem Klein-Mats den letzten Atemzug getan hatte, vor dem Häuschen an, und schon bevor sie die Tür aufmachte, wußte sie, wie es drinnen stand. Um diese Zeit mußte es zu Ende sein. Am vorhergehenden Nachmittag war Klein-Mats in der Nähe der Gruben umhergestreift und stand zu nahe an einem Lichtschacht, als eben eine Sprengung im Gange war; da hatten ihn einige umherfliegende Steine getroffen. Er war ganz allein gewesen und hatte lange ohnmächtig auf dem Boden gelegen, ohne daß jemand wußte, was geschehen war. Schließlich bekamen ein paar Männer, die unter dem Lichtschacht arbeiteten, auf höchst seltsame Weise Kenntnis von dem Unglücksfall. Sie behaupteten, ein kleines Knirpschen, kaum eine Spanne hoch, sei am Rande der Grube erschienen und habe ihnen zugerufen, sie sollten rasch Klein-Mats zu Hilfe kommen, er liege vor der Grube und sei am Verbluten. Hierauf war Klein-Mats nach Hause getragen und verbunden worden; aber es war schon zu spät gewesen. Er hatte so viel Blut verloren, daß er nicht mehr zu retten war.
Als die Krankenschwester ins Zimmer trat, dachte sie weniger an Klein-Mats, als an seine Schwester. „Was soll ich nur mit dem armen Kinde anfangen?“ fragte sie sich. „Sie wird ganz untröstlich sein.“
Aber sie sah bald, daß Åsa weder weinte noch jammerte, sondern ganz ruhig bei allem half, was getan werden sollte. Die Krankenpflegerin verwunderte sich sehr darüber; aber sie erhielt Aufklärung, als Åsa mit ihr wegen des Begräbnisses sprach.
„Wenn man mit jemand wie Klein-Mats zusammengewesen ist,“ sagte Åsa, [405] die sich leicht ein wenig altklug und feierlich ausdrückte, „dann muß man vor allem anderen daran denken, wie man ihn ehren kann, so lange es noch möglich ist. Nachher ist Zeit genug zum Weinen.“
Und dann bat sie die Krankenschwester, ihr zu helfen, daß Klein-Mats ein ehrenvolles Begräbnis bekäme. Niemand verdiene ein solches mehr als Klein-Mats, sagte Åsa.
Die Krankenschwester meinte, wenn dieser Gedanke dem armen verlassenen Kinde Trost gewähren könne, so sei das nur ein großes Glück für Åsa. Sie versprach, ihr zu helfen, und das war für Åsa von größter Wichtigkeit, ja es war ihr, als sei das Ziel jetzt schon fast erreicht; denn Schwester Hilmas Stimme fiel hier schwer ins Gewicht. Auf dem großen Grubenfeld, wo die Sprengschüsse jeden Tag ertönten, mußte ja jeder Arbeiter jeden Augenblick gewärtig sein, von einem umherfliegenden Stein oder einem herabrollenden Felsblock getroffen zu werden, und deshalb wollte sich jeder mit der Krankenschwester gut stellen.
Als darum Schwester Hilma und Åsa bei den Grubenarbeitern herumgingen und sie baten, am nächsten Sonntag Klein-Mats das Trauergeleite zu geben, schlugen ihnen nicht viele ihre Bitte ab. „Wenn Schwester Hilma uns darum bittet, dann tun wir es,“ sagten sie.
Auch mit der Musik brachte die Krankenpflegerin alles nach Wunsch in Ordnung; es sollte am Grabe geblasen und von dem kleinen Singchor auch ein Lied gesungen werden. Wegen des Schulhauses tat Schwester Hilma keine Schritte; da es aber noch schönes beständiges Sommerwetter war, wurde beschlossen, die Leidtragenden im Freien mit Kaffee zu bewirten. Tische und Bänke sollten aus dem Saale der Guttempler und Tassen und Teller vom Kaufmann entlehnt werden. Zwei Grubenarbeiterfrauen, die in den Truhen allerlei Vorräte hatten, die sie, so lange sie hier in der Einöde wohnten, nicht gebrauchten, nahmen der Schwester zuliebe feines Tischzeug heraus, das auf die Kaffeetische gebreitet werden sollte.
Dann wurden Zwiebacke und Bretzeln bei einem Bäcker in Boden und schwarz-weißes Konfekt bei einem Konditor in Luleå bestellt.
Es herrschte eine solche Aufregung wegen dieses Begräbnisses, das Åsa ihrem Bruder veranstalten wollte, daß in ganz Malmberget davon gesprochen wurde. Und schließlich erfuhr auch der Inspektor, was sich da vorbereitete.
Als dieser hörte, daß fünfzig Grubenarbeiter einen zwölfjährigen Jungen zu Grabe geleiten sollten, der, soviel er wußte, ein herumziehender Betteljunge gewesen war, kam es ihm wie der reine Wahnsinn vor. Und Gesang und Musik und Kaffeebewirtung sollte es geben! Und das Grab mit Tannenreis geschmückt, und Konfekt von Luleå! Er ließ die Krankenpflegerin zu sich kommen und befahl ihr, die ganze Sache zu verhindern.
„Es ist unrecht, wenn man das Kind sein Geld auf diese Weise verschleudern läßt,“ sagte er. „Erwachsene Leute können sich doch unmöglich [406] nach dem Einfall eines Kindes richten. Ihr macht euch ja alle miteinander lächerlich.“
Der Inspektor war weder zornig noch böse; er sprach ganz ruhig und bat die Krankenpflegerin mit einfachen Worten, den Gesang und die Musik und das große Geleite abzubestellen. Es sei ja ganz genügend, wenn neun bis zehn Menschen den Jungen zu Grabe geleiteten. Und die Krankenpflegerin widersprach dem Inspektor mit keinem Wort, teils aus Respekt, teils auch, weil sie in ihrem Herzen zugeben mußte, daß er recht habe. Es war wirklich zu viel Aufhebens um so einen Betteljungen. Aus Mitleid mit dem armen Mädchen war ihr das Herz mit dem Verstande durchgegangen.
Von der Villa des Inspektors ging die Krankenpflegerin hinunter in das Arbeiterviertel, Åsa zu sagen, daß sie es nun nicht so einrichten könne, wie das Mädchen es wünschte; aber sie tat es nicht mit leichtem Herzen, denn niemand wußte besser als sie, was dieses Begräbnis für das arme Kind bedeutete. Auf dem Wege traf sie mit ein paar Arbeiterfrauen zusammen; diesen teilte sie ihre Sorgen mit, und die Arbeiterfrauen sagten sogleich, der Inspektor habe ganz recht, es hätte gar keinen Sinn, wenn man mit einem Betteljungen soviel Umstände machen würde. Das arme Mädchen tue ihnen zwar herzlich leid, aber es wäre ganz unnatürlich, wenn man ein Kind auf diese Weise alles einrichten und anordnen ließe, deshalb sei es ganz gut, wenn aus dem Ganzen nichts würde.
Beim Nachhausegehen teilten die Frauen die Geschichte noch anderen mit, und bald hatte sich von dem Arbeiterviertel bis nach den Grubenschächten die Nachricht verbreitet: das große feierliche Begräbnis für Klein-Mats dürfe nicht stattfinden; und da stimmte jedermann sogleich darin überein, daß es so allein richtig sei.
In ganz Malmberget war gewiß nur eine einzige Person, die anderer Meinung war, und diese eine war das Gänsemädchen Åsa.
Die Krankenpflegerin hatte wirklich einen schweren Kampf mit ihr; Åsa klagte nicht und weinte nicht, aber sie wollte nicht nachgeben. Sie sagte, da sie von dem Inspektor keine Hilfe verlange, habe er ja gar nichts dabei zu tun. Er könne ihr doch nicht verbieten, ihren Bruder zu begraben, wie sie wollte.
Erst als ihr mehrere von den Frauen erklärt hatten, nachdem der Inspektor nichts davon wissen wolle, werde nicht eine von ihnen an dem Begräbnis teilnehmen, wurde ihr klar, daß sie dessen Erlaubnis haben müsse.
Åsa saß einen Augenblick ganz still da und überlegte, dann stand sie rasch auf.
„Wohin willst du?“ fragte die Krankenschwester.
„Ich muß selbst mit dem Inspektor reden,“ antwortete Åsa.
„Du denkst doch wohl nicht, er werde sich darum kümmern, was du ihm sagst?“ riefen die Frauen.
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„Ich glaube, Klein-Mats wäre es recht, wenn ich hinginge,“ sagte Åsa. „Der Inspektor weiß vielleicht gar nicht, was für ein Mensch Klein-Mats gewesen ist.“
Das Gänsemädchen Åsa machte sich rasch fertig und war bald auf dem Wege zum Inspektor. Aber es ist wohl kaum nötig, zu sagen, wie unerhört es war, daß ein Kind wie Åsa überhaupt daran denken konnte, den Inspektor, den mächtigsten Mann in ganz Malmberget, von seinem einmal ausgesprochenen Willen abzubringen. Deshalb gingen auch die Krankenschwester und die andern Frauen ganz von selbst hinter ihr her, um zu sehen, ob sie wirklich den Mut hätte, in die Villa hineinzugehen.
Das Gänsemädchen Åsa ging in der Mitte der Straße, und während sie so dahin wanderte, hatte sie etwas an sich, daß sich die Leute unwillkürlich nach ihr umschauten. Sie schritt so ernst und würdig einher wie ein junges Mädchen, das am Konfirmationstag zum Altar schreitet. Sie hatte sich ein großes schwarzseidenes Tuch, ein Erbstück von ihrer Mutter, um den Kopf geschlungen, in der Hand trug sie ein zusammengefaltetes Taschentuch und in der anderen ein Körbchen Spielsachen, die Klein-Mats verfertigt hatte.
Als die am Wege spielenden kleinen Kinder Åsa so daherkommen sahen, liefen sie auf sie zu und riefen: „Wohin gehst du, Åsa? Wohin gehst du?“
Aber Åsa gab keine Antwort; sie hatte die Frage nicht einmal gehört und ging ruhig weiter. Als aber die Kinder immer wieder fragten und Åsa an den Kleidern zogen, hielten die hinterherkommenden Weiber die Kinder zurück und geboten ihnen Schweigen. „Laßt sie gehen,“ sagten sie. „Sie geht zum Inspektor, ihn zu bitten, daß sie ihrem Bruder, Klein-Mats, ein großes Begräbnis halten darf.“
Da wurden auch die Kinder von Erstaunen überwältigt, weil Åsa sich auf etwas so Kühnes einlassen wollte, und eine kleine Schar Kinder lief mit, zu sehen, wie das ablaufen würde.
Dies alles trug sich etwa um sechs Uhr nachmittags zu, als eben die Arbeiter in den Gruben Schicht machten; und als Åsa eine Strecke weit gegangen war, kamen mehrere hundert Arbeiter mit langen, hastigen Schritten des Weges daher. Für gewöhnlich sahen sie, wenn sie von der Arbeit kamen, weder rechts noch links, aber als sie Åsa begegneten, merkten einige gleich, daß das Kind etwas Ungewöhnliches vorhatte, und fragten es, was geschehen sei. Åsa sagte kein Wort, aber die Kinder schrieen laut durcheinander, wohin sie wollte. Da dachten einige der Arbeiter, das sei doch ein sehr mutiges Unterfangen von einem Kinde, und sie gingen auch mit, zu sehen, wie es ihr dabei ginge.
Åsa ging in das Kontorgebäude hinein, wo der Inspektor um diese Zeit gewöhnlich bei seiner Arbeit saß. Als sie in den Flur trat, ging die Tür auf, und der Inspektor stand vor ihr; er hatte den Hut auf und den Stock in der Hand und war auf dem Wege nach seiner Wohnung, um zu Mittag zu essen.
„Wen möchtest du sprechen?“ fragte er, als er das kleine Mädchen sah, [408] das mit einem schwarzseidenen Tuch um den Kopf und einem zusammengefalteten Taschentuch in der Hand so feierlich daherkam.
„Ich möchte gern mit dem Herrn Inspektor selbst sprechen,“ antwortete Åsa.
„Ach so! Nun dann komm herein!“ sagte der Inspektor und trat wieder ins Kontor. Er ließ die Tür hinter sich offen, denn er dachte natürlich, das kleine Mädchen würde ihn nicht lange aufhalten. So kam es, daß die Personen, die hinter Åsa hergekommen waren und nun im Flur und auf der Treppe standen, hörten, was im Kontor vorging.
Nachdem das Gänsemädchen Åsa eingetreten war, richtete sie sich zuerst auf, schob das seidene Tuch zurück und heftete ihre runden Kinderaugen, die einen so ernsten Blick hatten, daß es einem ins Herz schnitt, ruhig auf das Gesicht des Inspektors. „Klein-Mats ist ja nun tot,“ begann sie, und dabei zitterte ihre Stimme, daß sie einen Augenblick nicht weiter sprechen konnte.
Jetzt wußte der Inspektor, wen er vor sich hatte. „Ach so, du bist also das kleine Mädchen, das das große Begräbnis halten will,“ sagte er freundlich. „Das mußt du aber lassen, Kind. Es wird zu teuer für dich. Wenn ich nur früher etwas davon gewußt hätte, dann würde ich es gleich verhindert haben.“
Es zuckte in dem Gesicht des kleinen Mädchens, und der Inspektor glaubte, sie würde in Tränen ausbrechen. Statt dessen aber sagte sie: „Darf ich dem Herrn Inspektor nicht ein wenig von Klein-Mats erzählen?“
„Ich habe eure Geschichte schon gehört,“ erwiderte der Inspektor in seiner gewöhnlichen ruhigen, freundlichen Weise. „Du tust mir von Herzen leid, das darfst du mir glauben. Ich will gewiß nur dein Bestes.“
Da richtete sich das Gänsemädchen Åsa noch höher auf, und sie begann mit lauter, klarer Stimme: „Von seinem neunten Jahre an hat Klein-Mats weder Vater noch Mutter mehr gehabt, und von da an hat er ganz für sich selbst sorgen müssen wie ein erwachsener Mann. Er ist sich stets zu gut zum Betteln gewesen, niemals hätte er auch nur um einen Teller Suppe gebeten, ohne dafür bezahlen zu wollen. Er hat immer gesagt: ‚Ein Mann darf nicht betteln, das schickt sich nicht für ihn.‘ Um etwas zu verdienen, ist Klein-Mats umhergegangen und hat Eier und Butter aufgekauft, und da hat er seine Sache so gut gemacht wie ein gewiegter Kaufmann. Er hat nie etwas verschleudert und niemals auch nur einen roten Heller für sich behalten, sondern alles miteinander mir gebracht. Wenn er die Gänse hütete, hat er immer eine Arbeit mitgenommen und ist dann so fleißig gewesen, wie nur ein Erwachsener es sein kann. Die Bauern in Schonen haben Klein-Mats, wenn er von Hof zu Hof wanderte, oft sehr große Summen mitgegeben, denn sie wußten, daß sie sich auf Klein-Mats ebensogut verlassen könnten wie auf sich selbst. Und deshalb ist es nicht richtig, wenn man sagt, Klein-Mats sei nur ein Kind gewesen, denn es gibt nicht viele große Leute, die – – –“
Der Inspektor sah zu Boden; nicht eine Muskel bewegte sich in seinem [409] Gesicht, und Åsa schwieg, denn es war ihr, als ob ihre Worte gar keinen Eindruck auf ihn machten. Daheim in der Hütte, da war es ihr gewesen, als hätte sie so gar viel von Klein-Mats zu sagen, aber jetzt kam es ihr herzlich wenig vor. Ach, wie sollte sie doch den Inspektor zu der Einsicht bringen, daß Klein-Mats es verdiente, mit Ehrenbezeugungen begraben zu werden, die man einem Erwachsenen zuteil werden ließ?
„Und wenn ich nun das Begräbnis selbst bezahlen will …“ begann Åsa wieder, verstummte aber aufs neue.
Jetzt hob der Inspektor den Kopf und sah dem Gänsemädchen Åsa tief in die Augen. Er prüfte sie und schätzte sie ein, wie der zu tun gewohnt ist, dem viele Menschen unterstellt sind. Und während er so tat, dachte er: „Dieses Mädchen hier hat ihre Heimat, ihre Eltern und ihre Geschwister verloren, aber noch ist ihr Mut nicht gebrochen, es wird ein prächtiges Menschenkind aus ihr werden. Aber ich darf der Last, die sie zu tragen hat, nicht das geringste hinzufügen, denn das könnte der Strohhalm sein, unter dem sie zusammenbräche.“ Er verstand, was das für sie gewesen war, als sie sich entschloß, hierherzukommen, um mit ihm zu sprechen. Sie mußte diesen Bruder über alles geliebt haben! Nein, einer solchen Liebe durfte man keine abschlägige Antwort geben!
„Ja, ja, ich muß dich wohl gewähren lassen,“ sagte der Inspektor.