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35 In Uppsala-Das Maienfest
日期:2020-09-11 14:10  点击:240
Aber in dem Augenblick, wo der Student einschlief, stand just draußen auf dem Dache vor dem Mansardenfenster ein kleiner Knirps in gelben Lederhosen, grüner Weste und mit einer weißen Zipfelmütze auf dem Kopf, und dieser kleine Knirps dachte, wenn er an der Stelle des jungen Mannes wäre, der da drin in seinem Bette lag und schlief, dann wäre er vollkommen glücklich.
 
Daß sich aber Nils Holgersson, der vor ein paar Stunden in einem Dotterblumenbusch bei Ekolsundviken lag, jetzt in Uppsala befand, daran war Bataki, der Rabe, schuld, der ihn mit sich auf Abenteuer gelockt hatte.
 
Der Junge selbst hatte an dergleichen nicht im entferntesten gedacht. Er [310] lag da zwischen den Dotterblumen und schaute zum Himmel hinauf, als er plötzlich Bataki mitten zwischen den dahinziehenden Wolken entdeckte. Der Junge hätte sich am liebsten vor dem Raben versteckt; aber Bataki hatte ihn schon gesehen, und im nächsten Augenblick stand er auch mitten in den Dotterblumen und redete Nils Holgersson an, wie wenn er und der Junge immer die besten Freunde gewesen wären.
 
Und so düster und feierlich Bataki auch aussah, der Junge merkte doch, daß ihm der Schelm im Auge saß, ja, er hatte das Gefühl, der Rabe sei nur gekommen, sich auf irgend eine Weise über ihn lustig zu machen. Der Junge nahm sich deshalb vor, auf gar nichts einzugehen, was Bataki auch sagen möchte.
 
Bataki sagte, er habe nicht vergessen, daß er dem Jungen eine Genugtuung schuldig sei, weil er ihm nicht habe sagen dürfen, wo sich der Bruderteil befinde, und er wolle ihm jetzt dafür ein andres Geheimnis anvertrauen. Er wisse nämlich, wie einer, der so verzaubert worden sei wie der Junge, wieder ein Mensch werden könne.
 
Der Rabe war der festen Überzeugung gewesen, wenn er eine solche Lockspeise auswerfe, werde der Junge sogleich anbeißen. Dieser aber antwortete in abweisendem Ton, er wisse schon, daß er wieder ein Mensch werden könne, wenn es ihm gelinge, den weißen Gänserich wohlbehalten zuerst nach Lappland und dann wieder zurück nach Schonen zu führen.
 
„Aber wie du weißt, ist es gar nicht so leicht, einen Gänserich wohlbehalten durchs Land zu führen,“ entgegnete Bataki. „Da wäre es gar nicht so übel, wenn du noch einen andern Ausweg wüßtest, falls dir der eine nicht gelingen sollte. Wenn du es jedoch nicht wissen willst, dann halte ich meinen Schnabel.“
 
Da antwortete der Junge, er habe nichts dagegen, wenn ihm Bataki das Geheimnis mitteilen wolle.
 
„Und das will ich auch,“ sagte der Rabe, „doch erst im richtigen Augenblick. Setze dich auf meinen Rücken und komm mit auf einen Ausflug, dann werden wir sehen, ob sich vielleicht eine gute Gelegenheit bietet.“
 
Da wurde der Junge wieder mißtrauisch, und er wußte nicht recht, wie er mit Bataki daran war. „Du hast wohl den Mut nicht, dich mir anzuvertrauen,“ sagte der Rabe. Aber der Junge konnte durchaus nicht ertragen, wenn jemand meinte, er fürchte sich vor etwas; und so saß er im nächsten Augenblick auf dem Rücken des Raben.
 
Bataki trug ihn nach Uppsala und setzte ihn dort auf einem Dach ab. Hierauf befahl er ihm, sich recht umzuschauen und ihm dann zu sagen, wer wohl in dieser Stadt wohne und regiere.
 
Der Junge schaute über die Stadt hin. Sie war ziemlich groß und hatte eine herrliche Lage mitten auf einer weiten, fruchtbaren Ebene. Er sah viele vornehme, stattliche Häuser, und auf einem Hügel ragte ein festgemauertes Schloß mit zwei massiven Türmen auf.
 
„Vielleicht wohnt der König mit seinem Gefolge da,“ sagte der Junge.
 
[311]
 
„Du hast nicht gerade schlecht geraten,“ versetzte der Rabe. „Der Ort ist in alten Zeiten eine Königsstadt gewesen; aber jetzt ist es mit dieser Herrlichkeit vorbei.“
 
Noch einmal sah sich der Junge um. Da fiel ihm vor allem die schöne Domkirche auf, die mit ihren drei schlanken Türmen, mit ihren prächtigen Portalen und reichverzierten Mauern in der Sonne glänzte.
 
„Vielleicht wohnt hier ein Bischof mit seinen Pfarrern,“ sagte er.
 
„Das ist auch nicht gerade schlecht geraten,“ erwiderte der Rabe. „Es haben hier wirklich einmal Erzbischöfe gewohnt, die ebenso mächtig waren wie Könige, und auch jetzt noch hat ein Kirchenfürst seinen Sitz hier, aber er regiert auch nicht in dieser Stadt.“
 
„Dann weiß ich nicht, wen ich nennen soll,“ sagte der Junge.
 
„In dieser Stadt regiert die Wissenschaft,“ sprach der Rabe feierlich. „Die großen Gebäude, die du hier überall siehst, sind für sie und ihre Jünger eingerichtet.“
 
Der Junge wollte dies kaum glauben. Aber der Rabe sagte: „Komm nur mit, dann sollst du selbst sehen!“
 
Hierauf flog er mit dem Jungen davon, und sie sahen miteinander in die großen Häuser hinein. An mehreren Orten standen die Fenster offen, und der Junge konnte da und dort tief hineinschauen. Da sah er, daß der Rabe die Wahrheit gesprochen hatte.
 
Bataki zeigte ihm die große Bibliothek, die vom Erdgeschoß bis zum Dachfirst mit Büchern angefüllt ist; er führte ihn in das stolze Universitätsgebäude hinein und zeigte ihm die prächtigen Hörsäle. Dann flog er mit ihm an den alten Gebäuden vorüber, die das Gustavianum heißen; da konnte der Junge durch die Fenster ausgestopfte Tiere wahrnehmen. Sie flogen über das große Gewächshaus mit den vielen seltenen Pflanzen hin und schauten auf das Observatorium hinunter, wo das lange Fernrohr zum Himmel gerichtet war.
 
Sie flogen auch an vielen Fenstern vorüber; und der Junge sah da in Zimmer, wo die Wände ringsum von oben bis unten mit Büchern bedeckt waren, und wo alte Herren mit Brillen auf den Nasen eifrig lasen oder schrieben. Dann flogen sie an Giebelfenstern vorbei, wo die Studenten, auf ihren Sofas ausgestreckt, dicke Manuskripte vor sich hatten.
 
Schließlich ließ sich der Rabe auf einem Dache nieder. „Siehst du nun, daß ich die Wahrheit gesprochen habe, als ich dir sagte, in dieser Stadt regiere die Wissenschaft?“ sagte er. Und der Junge mußte zugeben, daß es sich so verhalte. „Wenn ich nicht ein Rabe wäre,“ fuhr Bataki fort, „sondern nur ein Mensch wie du, dann würde ich mich hier niederlassen. Ich würde dann Tag für Tag in einem Zimmer voll Bücher sitzen und alles lesen, was darin stünde. Hättest du nicht auch Lust zu so etwas?“
 
„Nein, ich glaube, ich würde viel lieber mit den Wildgänsen umherziehen,“ antwortete der Junge.
 
[312]
 
„Wie, möchtest du nicht ein Mensch werden, der die Krankheiten heilen kann?“ fragte der Rabe.
 
„Doch, das möchte ich vielleicht schon.“
 
„Möchtest du nicht ein Mensch werden, der alles weiß, was sich je in der Welt zugetragen hat, der alle Sprachen sprechen und einem sagen kann, welche Bahnen die Sonne, der Mond und die Sterne am Himmel beschreiben?“ fragte der Rabe.
 
„O ja, das könnte ja auch ganz unterhaltend sein.“
 
„Möchtest du nicht lernen, zwischen gut und böse zu unterscheiden, zwischen Recht und Unrecht?“
 
„Auch das ist gut und nützlich,“ antwortete der Junge. „Ich habe es schon oft bemerkt.“
 
„Und möchtest du nicht ein Pfarrer werden und in deiner Kirche daheim predigen?“
 
„Wenn ich es so weit brächte, würden Vater und Mutter überglücklich sein!“ seufzte der Junge.
 
Auf diese Weise gab der Rabe dem Jungen zu verstehen, wie glücklich die jungen Leute seien, die in Uppsala studieren konnten. Aber der Däumling wünschte trotzdem nicht, einer von ihnen zu sein.
 
Gerade an diesem Abend wurde zufälligerweise das große Maienfest gefeiert, das in Uppsala jedes Jahr dem Frühlingsanfang zu Ehren gehalten wird. Es hätte eigentlich schon am ersten Mai stattfinden sollen; aber an diesem Tage hatte es in Strömen geregnet, und so war es auf einen andern Tag verschoben worden.
 
Jetzt sah Nils Holgersson die Studenten, als sie nach dem botanischen Garten zogen, wo das Fest gehalten wurde. In einem langen, breiten Zuge kamen sie daher mit den weißen Studentenmützen auf dem Kopfe, und die ganze Straße sah aus wie ein schwarzer, mit weißen Wasserrosen bedeckter Strom. Dem Zuge voran wurden weißseidene goldgestickte Fahnen getragen, und den ganzen Weg entlang sangen die Teilnehmer lauter Frühlingslieder. Aber Nils Holgersson war es, als seien es gar nicht die Studenten, die die Lieder sangen; ihm war, als schwebe der Gesang über dem Zuge, ja er hatte das Gefühl, als sängen nicht die Studenten dem Frühling zu Ehren, sondern als sei der Frühling irgendwo verborgen und singe für die Studenten. Nils Holgersson hätte gar nicht gedacht, daß Menschengesang so schön klingen könnte! Er klang wie das Sausen des Windes in den Tannenwipfeln, klang wie eherne Glockentöne und wie das Lied der wilden Schwäne draußen am Meeresufer.
 
Als die Studenten den Garten erreicht hatten, wo die Rasenflächen im Schmucke des ersten zarten hellgrünen Grases glänzten und die Frühlingsknospen der Bäume und Sträucher am Aufbrechen waren, hielt der Zug vor einer Rednerbühne; ein alter Herr stieg hinauf und begann eine Rede.
 
Die Rednerbühne war auf der Freitreppe des großen Gewächshauses [313] errichtet, und der Rabe setzte den Jungen auf das Dach des Treibhauses. Da saß er in aller Ruhe und konnte alles ganz behaglich sehen und hören. Der alte Herr auf der Rednerbühne sagte, das beste im Leben sei, jung zu sein und in Uppsala studieren zu dürfen. Er sprach von der guten, friedlichen Arbeit des Studiums und von der reichen, sonnigen Jugendfreude, die nirgends so genossen werden könnte, wie in einem großen Kreise von Studiengenossen. Einmal ums andre betonte er das Glück, das darin liege, im Kreise froher, hochgesinnter Genossen leben zu dürfen; das mache die Arbeit so leicht, das Leid so flüchtig, die Hoffnungen so golden.
 
Der Junge betrachtete die in einem Halbkreis um die Rednerbühne versammelten Studenten, und da ging ihm ein Licht auf, wie über die Maßen herrlich es sein müßte, ihrem Kreise anzugehören. Welch eine Ehre und welch ein Glück, Mitglied einer solchen Schar zu sein! Da galt jeder gleich mehr, als er für sich allein gegolten hätte.
 
Nach der Rede wurde ein Lied angestimmt, und nach dem Gesang betrat ein neuer Redner die Bühne. Der Junge hätte nie geglaubt, daß die menschliche Sprache so erschüttern, aufmuntern und erfreuen könnte.
 
Bisher hatte Nils Holgersson hauptsächlich die Studenten betrachtet; jetzt sah er, daß diese sich nicht allein in dem Garten befanden, sondern daß auch junge Mädchen in hellen Gewändern und viele andre Leute da waren. Aber diesen allen ging es offenbar gerade wie dem Jungen, sie schienen auch alle nur der Studenten wegen gekommen zu sein.
 
Ab und zu gab es eine Pause zwischen den Reden und Gesängen, und dann zerstreuten sich die Scharen über den ganzen Garten. Aber schon nach kurzer Zeit stand ein neuer Redner auf der Bühne, und rasch sammelten sich die Zuhörer wieder um ihn. Und so ging es weiter, bis die Dunkelheit anbrach.
 
Als alles zu Ende war, atmete der Junge tief auf, und wie aus einem Traum erwachend rieb er sich die Augen, denn er war in einem Lande gewesen, in das er noch nie einen Fuß gesetzt hatte. Alle diese vielen jungen Leute, die so lebensfroh waren und der Zukunft so siegessicher entgegensahen, wirkten mit ihrem Frohsinn und ihrer Freude ansteckend auf die andern, und jetzt war der Junge mit ihnen in dem Lande der Freude gewesen. Als aber die Töne des letzten Liedes hinstarben, da überkam ihn die Erkenntnis, wie traurig sein eigenes Leben doch war, und er konnte es fast nicht über sich gewinnen, zu seinen armen Reisegenossen zurückzukehren.
 
Der Rabe hatte die ganze Zeit über neben dem Jungen gesessen; jetzt kratzte er sich mit dem Fuße hinter dem Ohr. „Nun, Däumling, soll ich dir jetzt mitteilen, wie du wieder ein Mensch werden kannst?“ fragte er. „Du mußt warten, bis du mit jemand zusammentriffst, der zu dir sagt, er möchte gern an deiner Stelle mit den Wildgänsen umherziehen; dann mußt du den Augenblick wahrnehmen und zu ihm sagen …“
 
Und nun teilte Bataki dem Jungen ein paar Worte mit, die so wirksam [314] und gefährlich waren, daß sie gar nicht laut ausgesprochen, sondern nur geflüstert werden durften, solange sie nicht im Ernst gesagt sein sollten.
 
„So, mehr brauchst du nicht zu sagen, um wieder ein Mensch zu werden,“ sagte Bataki zum Schluß.
 
„Ja, das glaube ich wohl,“ erwiderte der Junge, „denn ich finde natürlich nie jemand, der sich an meine Stelle wünschte.“
 
„O, das ist nicht so ganz unmöglich,“ sagte der Rabe. Und hierauf war er mit dem Jungen wieder in die Stadt hineingeflogen und hatte ihn auf dem Dach vor jenem Kammerfenster abgesetzt, wo, wie wir oben gehört haben, der Junge nun schon eine Weile saß und darüber nachdachte, wie glücklich doch der Student sein müsse, der in der Dachkammer da drinnen in seinem Bett lag und schlief. 

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