Donnerstag, 28. April
Die Wildgänse hatten eine beschwerliche Reise. Es war ihre Absicht gewesen, gleich nachdem sie gefrühstückt hätten, geradenwegs über Westmanland hinzuziehen, aber der Westwind nahm zu und trieb sie anstatt nordwärts ganz an die Grenze von Uppland.
Sie flogen hoch droben, und der Wind jagte sie in größter Eile davon. Der Junge schaute hinunter, um zu sehen, wie es in Westmanland beschaffen sei, konnte aber nicht viel unterscheiden. Der östliche Teil dieser Landschaft war flach und eben, das sah er deutlich, aber er konnte nicht begreifen, was alle die Furchen und Striche bedeuteten, die von Norden nach Süden und quer über die Ebene hinliefen. Das alles sah höchst wunderbar aus, denn fast alle die Striche erstreckten sich beinahe schnurgerade und mit ganz gleichem Zwischenraum.
„Dieses Land ist ebenso gestreift wie die Schürze meiner Mutter,“ sagte der Junge. „Ich möchte nur wissen, was das für Streifen sind, die darüber hinlaufen?“
„Flüsse und Bergrücken, Straßen und Eisenbahnen!“ antworteten die Wildgänse. „Flüsse und Bergrücken, Straßen und Eisenbahnen!“
Und das war wirklich wahr, denn als die Gänse ostwärts getrieben wurden, kamen sie zuerst über den Hedstrom, der zwischen zwei Bergrücken fließt und neben dem eine Eisenbahn hinläuft. Dann erreichten sie den Kolbäkfluß, der auf seiner einen Seite eine Eisenbahn und auf der andern einen Bergrücken hat, über den eine Landstraße führt. Hierauf kam der Svartå, der [240] auch an Bergen und Landstraßen hinfließt, dann der Lillå mit dem Badelundberg, und schließlich der Sagå mit Straße und Eisenbahn auf seiner rechten Seite.
„Noch nie in meinem Leben habe ich so viele Wege gesehen, die alle von einer Seite herkommen,“ dachte der Junge. „Es müssen doch schrecklich viele Waren von Norden her durch dieses Land hindurchgeführt werden.“
Zugleich erschien ihm das aber sehr merkwürdig, denn der Junge glaubte, gleich hinter Westmanland sei Schweden zu Ende. Was dann noch käme, könne nicht viel andres sein als Wald und Einöde.
Als der Wind die Wildgänse ganz bis zum Sagå hingetrieben hatte, mußte Akka erkannt haben, daß sie wo anders hingekommen war, als sie beabsichtigt hatte, denn hier drehte sie um, und die Schar arbeitete sich bei heftigem Gegenwind zurück gegen Westen. Sie flogen also noch einmal über die gestreifte Ebene und dann nach dem westlichen Teil der Landschaft, die aus waldigem Hügelland bestand.
Solange es über die Ebene hinging, hatte sich der Junge über den Hals des Gänserichs gebeugt und hinabgeschaut, aber als sie die Ebene hinter sich hatten, richtete er sich auf, um seine Augen ausruhen zu lassen, denn da, wo die Erde mit Wald bedeckt ist, gab es selten etwas Besonderes zu sehen.
Als sie jedoch eine Strecke über die Waldhügel hingeflogen waren, war es dem Jungen plötzlich, als höre er drunten auf der Erde etwas knirschen und ächzen.
Da mußte er sich natürlich wieder vorbeugen und hinuntersehen. Die Wildgänse flogen jetzt bei dem starken Gegenwind nicht besonders rasch, deshalb konnte der Junge das Land unter sich sehr deutlich erkennen. Das erste, was er sah, war ein schwarzes Loch, das senkrecht in die Erde hineinging. Über dem Loch war von großen Balken ein Hebewerk errichtet, und das Hebewerk holte unter Knirschen und Ächzen eben eine mit Felsstücken beladene Tonne herauf. Ringsherum lagen große Steinhaufen; in einem Schuppen zischte eine Dampfmaschine. Frauen und Kinder saßen in einem Kreis auf dem Boden und sortierten die Steine. Auf einer kleinen Schienenbahn rollten ein paar mit grauen Steinen beladene Wagen dahin, und am Waldessaum lagen kleine Arbeiterwohnungen.
Der Junge konnte nicht begreifen, was das sein sollte, und aus vollem Halse rief er auf die Erde hinunter: „Was ist denn das für ein Ort, wo man so viele Feldsteine aus der Erde heraufholt?“
„Hört den Dumrian! Hört den Dumrian!“ zwitscherten die Sperlinge, die hier daheim waren und gut Bescheid wußten. „Er kann Eisenerz nicht von Feldsteinen unterscheiden! Er kann Eisenerz nicht von Feldsteinen unterscheiden!“
Da erkannte der Junge, daß das, was er da unten sah, eine Grube war. Er war ziemlich enttäuscht, denn er hatte geglaubt, eine Grube müßte auf einem hohen Berg liegen, diese hier aber lag auf dem ebenen Boden zwischen zwei Hügeln.
[241]
Bald hatten die Wildgänse die Grube hinter sich; der Junge saß wieder aufrecht und sah geradeaus, denn die Waldhügel und die Birkengehölze, die da unter ihm lagen, hatte er schon gar so oft gesehen. Da drang plötzlich eine starke Hitze von der Erde bis zu ihm herauf, und rasch mußte er sich wieder vorbeugen, um zu sehen, woher sie käme.
Unter ihm lagen große Haufen Kohlen und Erz, und zwischen diesen stand ein hohes achteckiges, rotangestrichenes Gebäude, das eine ganze Flammengarbe zum Himmel hinaufsandte.
Zuerst konnte sich der Junge nichts andres denken, als daß da unten eine Feuersbrunst ausgebrochen sei; aber als er sah, wie die Leute ruhig umhergingen und sich nicht im geringsten um das Feuer kümmerten, da wußte er gar nicht, was er daraus machen sollte.
„Was ist denn das für ein Ort, wo sich niemand darum kümmert, wenn ein Haus in Flammen steht?“ rief er auf die Erde hinunter.
„Trala! der hat Angst vor dem Feuer!“ zwitscherten die Finken, die am Waldrande nisteten und wohl wußten, was in ihrer Nachbarschaft vorging. „Er weiß nicht, wie das Eisen aus dem Erz herausgeschmolzen wird. Er kann das Feuer aus einem Schmelzofen nicht von einer Feuersbrunst unterscheiden!“
Bald hatten die Wildgänse den Schmelzofen hinter sich, und der Junge schaute, wieder aufrecht sitzend, geradeaus, weil er meinte, in dieser Waldgegend sei nichts Besonderes zu sehen.
Aber sie waren noch nicht weit gekommen, als aus der Tiefe der Erde ein fürchterlicher Lärm und Spektakel zu ihm heraufdrang, und als er hinunterschaute, fiel ihm zuerst ein Wasserfall auf, der über eine Felswand hinunterstürzte. Neben dem Wasserfall stand ein großes Gebäude mit einem schwarzen Dach und einem hohen Schornstein, der einen dicken mit Funken vermischten Rauch ausstieß. Vor dem Gebäude lagen Eisenklumpen und Eisenstangen und wirkliche kleine Berge von Kohlen. Der Boden war weit umher ganz schwarz, und nach allen Seiten hin erstreckten sich schwarze Pfade. Aus dem Gebäude heraus tönte ein unbeschreiblicher Lärm; es dröhnte und donnerte ununterbrochen, und es war, als ob sich jemand mit gewaltigen Schlägen gegen ein brüllendes wildes Tier zu verteidigen suchte. Aber merkwürdigerweise kümmerte sich niemand um das, was hier vorging. Eine Strecke weiterhin lagen Arbeiterwohnungen unter grünen Bäumen, und noch etwas weiter ragte ein großer weißer Herrensitz auf. Auf den Stufen vor den Arbeiterwohnungen spielten die Kinder seelenvergnügt, und in der Allee, die zum Herrenhofe führte, gingen die Leute vollkommen beruhigt spazieren.
„Was ist denn das für ein Ort, wo sich niemand darum kümmert, wenn die Leute in dem Gebäude dort einander totschlagen?“ rief der Junge hinunter.
„Hak ak ak ak, der hat eine Ahnung! Hak ak ak ak!“ lachte eine Elster. „Dort wird niemand in Stücke gerissen. Das Eisen siedet und zischt, wenn es unter den Hammer kommt.“
[242]
Bald waren die Wildgänse auch über das Eisenwerk hinweggeflogen; der Junge hatte sich abermals aufgerichtet und schaute geradeaus, denn er dachte, jetzt sei hier im Walde gewiß nichts Besonderes mehr zu sehen.
Nachdem sie eine Weile geflogen waren, hörte der Junge eine Glocke läuten, und noch einmal mußte er sich vorbeugen, um zu sehen, woher der Klang käme.
Da sah er unter sich einen Bauernhof, wie er noch nie einen gesehen hatte. Das Wohnhaus war ein langes, rotangestrichenes, einstöckiges Gebäude; es war nicht einmal übermäßig groß, aber was den Jungen in Verwunderung setzte, waren die vielen großen, stattlichen Wirtschaftsgebäude, die daneben lagen. Der Junge wußte ungefähr, wie viele Nebengebäude zu einem Hofe gehörten, hier aber waren alle doppelt und dreifach vorhanden. So einen Überfluß an Wirtschaftsgebäuden hätte er sich nie träumen lassen. Und er konnte sich auch durchaus nicht denken, was darin aufbewahrt werden sollte, denn in der Nähe des Hofes waren fast gar keine bebauten Felder. Drinnen im Walde sah er wohl ein paar kleine Äcker; diese waren aber einerseits so klein, daß man sie kaum Äcker nennen konnte, und andrerseits stand auf jedem von ihnen schon eine Scheune, wo die zu erwartende Ernte untergebracht werden konnte.
Auf dem Stallgebäude hing die Vesperglocke in einem Türmchen, und das Läuten dieser Glocke hatte der Junge vorhin vernommen. Eben ging der Bauer mit seinen Knechten nach der Küche, und der Junge sah, daß er ein zahlreiches stattliches Gesinde hatte.
„Was sind das für Leute, die mitten im Walde, wo es doch kein Ackerland gibt, so große Höfe bauen?“ rief der Junge hinunter.
Auf dem Misthaufen stand der Hofhahn, und er blieb die Antwort nicht schuldig.
„Kikeriki! Dies ist ein altes Bergwerk! Ein altes Bergwerk!“ krähte er. „Die Äcker liegen unter der Erde! Die Äcker liegen unter der Erde!“
Jetzt verstand der Junge. Das war kein gewöhnliches Waldland, über das man nur so hinfliegen durfte. Ringsum waren allerdings Wälder und Berge, diese aber bargen unglaublich viel Merkwürdiges in ihrer Mitte.
Er sah Grubenfelder, wo die Hebebäume am Umfallen waren, weil die Erde durch Grubenlöcher schon ganz durchbohrt war, dann andre Grubenfelder, wo noch immer gearbeitet wurde; von diesen dröhnten dumpfe Sprengschüsse bis zu den Wildgänsen herauf, und in deren Nähe zogen sich die Arbeiterwohnungen wie ganze Dörfer am Waldrande hin. Er sah auch alte verlassene Schmiedewerkstätten, wo er durch die eingestürzten Dächer hindurch auf riesige eisenbeschlagene Hammerstiele und plump gemauerte Essen sehen konnte. Dann kamen wieder große Eisenwerke, wo so eifrig gearbeitet und gehämmert wurde, daß die Erde erzitterte. Tief drinnen in der Waldeinöde lagen still verborgen kleine Weiler, die aussahen, als wüßten sie gar nichts von dem Gelärm um sie her. Dann sah er Luftbahnen, an deren Drahtseilen die mit Erz beladenen Körbe lautlos hin und her glitten. In allen Wasserfällen drehten sich klappernde [243] Räder, elektrische Leitungen führten durch den stillen Wald, und ungeheuer lange Eisenbahnzüge kamen dahergerollt, Züge von sechzig bis siebzig mit Erz und Kohlen, mit Eisenstangen und Stahldraht beladenen Wagen.
Nachdem der Junge dies alles eine Weile aufmerksam betrachtet hatte, konnte er sich nicht länger zurückhalten.
„Wie heißt denn dieses Land hier, wo nichts als Eisen wächst?“ fragte er, obgleich er jetzt wußte, daß die Vögel drunten ihn verspotten würden.