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24 In Närke-Der Jahrmarktsabend
日期:2020-09-10 10:47  点击:234
Mittwoch, 27. April
 
Es war am Tag vor dem großen Viehmarkt in Örebro, und es goß so vom Himmel herunter, daß man draußen nichts mehr voneinander unterscheiden konnte. Das war ein Regen gerade wie die Sündflut. Der Himmel schien [219] alle seine Schleusen geöffnet zu haben, und gar mancher dachte im stillen: „Dies ist ganz wie zur Zeit der Ysätter-Kajsa. Gerade an den Jahrmärkten, da trieb sie den tollsten Schabernack. So ein Regenwetter am Vorabend des Jahrmarktes, das hätte ihr gepaßt.“
 
Je weiter der Abend vorrückte, desto schlimmer wurde der Regen. Als die Dunkelheit einbrach, ging ein wahrer Wolkenbruch nieder, die Wege wurden ganz grundlos, und den Leuten, die mit ihrem Vieh unterwegs waren, um bei guter Zeit nach Örebro zu kommen, ging es schlecht. Die Kühe und Ochsen waren übermüdet und sträubten sich, weiterzugehen, mehrere von den armen Tieren warfen sich mitten auf der Landstraße zu Boden, um zu zeigen, daß sie nicht mehr weiter könnten. Alle die Leute, die am Wege wohnten, mußten den Jahrmarktbesuchern Tür und Tor öffnen und sie so gut es eben ging für die Nacht aufnehmen. Alles war überfüllt, nicht nur die Wohnhäuser, nein, auch die Ställe und Scheunen.
 
Wer nur immer konnte, versuchte indes sich bis zum Wirtshaus durchzukämpfen; aber wer es erreicht hatte, bereute fast, nicht in einem der Häuser an der Straße geblieben zu sein, denn alle Stände in den Kuhställen und alle Krippen im Pferdestall waren längst besetzt. Die armen Leute hatten keine Wahl, sie mußten ihre Pferde und Kühe unter freiem Himmel im Regen stehen lassen, ja, ihre Besitzer selbst konnten nur mit Mühe und Not unter Dach und Fach kommen.
 
Auf dem Hofplatz war ein Gedränge, ein Schmutz und eine Nässe, die man gar nicht beschreiben konnte. Viele von den Tieren standen geradezu im Wasser und konnten sich nicht einmal niederlegen. Manchen von den Bauern gelang es allerdings, Stroh für ihr Vieh zu ergattern, da konnten sich die armen Tiere wenigstens niederlegen, und man konnte sie notdürftig zudecken; andre aber saßen drin im Wirtshaus, tranken und spielten und vergaßen darüber ihr Vieh, für das sie sorgen sollten, vollständig.
 
Nils Holgersson und die Wildgänse hatten an diesem Abend einen Holm im Hjälmar erreicht. Die kleine Insel war nur durch einen schmalen, seichten Wasserarm vom Lande getrennt; bei niedrigem Wasserstand konnte man trockenen Fußes hinüberkommen.
 
Auf dem Holm draußen regnete es ebenso heftig wie sonst überall auch. Der Junge konnte bei dem Regen, der unaufhörlich auf ihn herabfiel, nicht einschlafen. Schließlich stand er auf und wanderte auf der Insel umher. Er meinte, er fühle den Regen weniger, wenn er sich bewegte.
 
Kaum war er rings auf der Insel herumgegangen, als er in dem Wasser, das den Holm vom Festland trennte, ein Plätschern hörte, und schon im nächsten Augenblick sah er ein einzelnes Pferd zwischen den Büschen daherkommen. Es war eine alte Mähre, ein so elendes, kraftloses Pferd, wie Nils Holgersson noch nie eines gesehen hatte. Es war lendenlahm und steifbeinig und entsetzlich mager, man konnte alle Rippen unter der Haut zählen. Es trug weder Sattel noch Zaumzeug, nur eine alte Halfter, von der ein halbverfaultes [220] Strickende herunterhing. Offenbar hatte ihm das Losreißen keinerlei Schwierigkeiten bereitet.
 
Das Pferd ging geradenwegs auf die Stelle zu, wo die Wildgänse schliefen, und der Junge bekam Angst, es könnte sie treten. „Wohin willst du? Nimm dich in acht!“ rief er dem Pferde zu.
 
„Ach so, da bist du,“ sagte das Pferd und kam auf den Jungen zu. „Ich bin eine ganze Meile weit gegangen, dich zu finden.“
 
„Weißt du denn etwas von mir?“ fragte der Junge verwundert.
 
„Ich habe ja wohl Ohren zum Hören, wenn ich auch alt bin. Es wird gegenwärtig viel von dir gesprochen.“
 
Während es dies sagte, senkte das Pferd den Kopf, um besser sehen zu können, und Nils Holgersson bemerkte, daß es einen kleinen Kopf mit schönen Augen und einem feinen, weichen Maule hatte.
 
„Das ist einstmals ein gutes Pferd gewesen, wenn es auch auf seine alten Tage heruntergekommen ist,“ dachte der Junge.
 
„Ich möchte dich bitten, mit mir zu gehen und mir in einer Sache beizustehen,“ sagte das Pferd.
 
Der Junge dachte, es wäre wohl eine gewagte Sache, mit so einem elenden Geschöpf fortzugehen, und entschuldigte sich mit dem schlechten Wetter.
 
Doch das Pferd sagte: „Auf meinem Rücken hast du es nicht schlechter, als wenn du hier liegst. Aber du hast vielleicht den Mut nicht, mit so einer alten Schindmähre, wie ich eine bin, wegzugehen.“
 
„O doch, dazu habe ich schon den Mut,“ sagte der Junge.
 
„Dann wecke jetzt die Gänse, damit wir mit ihnen ausmachen, wo sie dich morgen wieder abholen werden,“ sagte das Pferd.
 
Kurz darauf saß Nils Holgersson auf dem Rücken des Pferdes, das viel besser trabte, als der Junge gedacht hatte; aber es war doch ein weiter Ritt durch Nacht und Regen, bis sie endlich vor einer großen Herberge Halt machten. Hier sah es schrecklich unheimlich aus. Die Wagengeleise auf der Straße waren übermäßig tief; der Junge war überzeugt, er würde ertrinken, wenn er da hineinfiele. An dem Lattenzaun, der das Gehöft rings umgab, waren ungefähr dreißig bis vierzig Pferde und Kühe angebunden; ohne jeglichen Schutz gegen den Regen standen sie da, und innen im Hofraum sah Nils Holgersson Karren mit hohen Kisten, in denen Schafe und Kälber, Schweine und Hühner untergebracht waren.
 
Das Pferd stellte sich an dem Lattenzaun auf. Der Junge saß noch auf seinem Rücken, und mit seinen guten Nachtaugen, die er seit seiner Verzauberung hatte, sah er ganz deutlich, wie schlecht es die armen Tiere hier hatten.
 
„Wie kommt es nur, daß ihr hier außen im Regen steht?“ fragte er.
 
„Wir sind auf dem Wege nach dem Jahrmarkt in Örebro, aber des Regens wegen mußten wir hier haltmachen. Dies ist zwar eine Herberge, es sind jedoch so viele Reisende angekommen, daß wir keinen Platz mehr im Hause fanden.“
 
Der Junge erwiderte nichts; schweigend schaute er sich um. Nicht viele von den Tieren schliefen, von allen Seiten ertönten Klagen und lautes Murren. [221] Und die armen Geschöpfe hatten allen Grund zum Jammern, denn das Wetter war jetzt noch schlimmer als am Tage. Ein eiskalter Wind hatte sich erhoben, und der scharfe peitschende Regen war jetzt mit Schnee vermischt. Da war es nicht schwer zu erraten, welche Hilfe das Pferd von dem Jungen verlangte.
 
„Siehst du dort den großen Bauernhof, der dem Wirtshause gerade gegenüber liegt?“ fragte das Pferd.
 
„Jawohl,“ sagte der Junge, „ich sehe ihn, und ich begreife nicht, warum ihr nicht dort um Obdach gebeten habt. Ist dort auch schon alles voll?“
 
„Nein, es sind keine fremden Tiere dort,“ antwortete das Pferd. „Aber die Besitzer dieses Hofes sind so geizig und ungefällig, daß es gar nichts nützen könnte, wenn man sie um ein Obdach bitten würde.“
 
„Ach, so hängt es also zusammen! Ja, dann müßt ihr freilich bleiben, wo ihr seid.“
 
 
„Aber ich bin auf dem Hofe drüben geboren und aufgewachsen,“ sagte das Pferd, „und ich weiß, daß dort ein großer Pferdestall und auch ein Kuhstall ist mit vielen Krippen und Ständen, und ich möchte wissen, ob du uns nicht den Eintritt dazu verschaffen könntest.“
 
„Ach nein, dazu habe ich sicher den Mut nicht,“ erwiderte der Junge. Aber die armen Tiere taten ihm schrecklich leid, und so entschloß er sich, es jedenfalls einmal zu versuchen.
 
Er lief hinüber auf den fremden Hof und sah da gleich, daß alle Wirtschaftsgebäude verschlossen und alle Schlüssel abgezogen waren. Ratlos und hilflos stand er da, doch da wurde ihm von einer ganz unerwarteten Seite Hilfe zuteil. Mit gewaltigem Sausen kam plötzlich eine Windsbraut dahergefahren und riß eine große Scheunentür auf, vor der der Junge eben Halt gemacht hatte.
 
Natürlich kehrte der Junge mit größter Eile zu dem Pferde zurück und sagte: „Ihr könnt zwar nicht in die Ställe hinein, aber eine große leere Scheune ist zu schließen vergessen worden, und dahin will ich euch führen.“
 
[222]
 
„Dafür sollst du schön bedankt sein,“ sagte das Pferd. „Es wird mir gut tun, wenn ich noch einmal in meiner alten Heimat schlafen darf. Dies ist die einzige Freude, die mir in meinem Leben noch zuteil werden kann.“
 
Auf dem reichen Bauernhofe, der dem Wirtshaus gerade gegenüber lag, waren indes die Bewohner an diesem Abend viel länger als gewöhnlich aufgeblieben.
 
Der Bauer war ein Mann von ungefähr fünfunddreißig Jahren. Er war groß und schlank und hatte ein schönes, aber etwas finsteres Gesicht. Am Tage war er im Regen draußen gewesen und war da ebenso naß geworden wie alle andern Leute auch. Deshalb hatte er beim Abendessen seine alte Mutter, die noch Herrin auf dem Hofe war, gebeten, ein Feuer auf der offenen Feuerstelle anzuzünden, damit er seine Kleider trocknen könnte. Die Mutter hatte ein ärmliches Holzfeuerchen angezündet, denn in diesem Hause wurde kein Brennholz verschwendet, und der Bauer hatte seinen Rock auf einem Stuhl dicht vor dem Feuer aufgehängt. Dann hatte er den Fuß auf den Herd gestellt, den Ellbogen aufs Knie gestützt und nachdenklich in die Flammen geschaut. So stand er nun schon seit mehreren Stunden, ohne sich zu rühren; die einzige Bewegung, die er machte, war, ab und zu ein neues Stück Holz aufs Feuer zu werfen.
 
Die Mutter hatte den Tisch abgeräumt und sein Bett hergerichtet, dann war sie ins Hinterstübchen gegangen und hatte es sich da bequem gemacht. Von Zeit zu Zeit trat sie an die Tür und sah ihren Sohn fragend an, der noch immer vor dem Feuer stand und nicht zu Bett ging.
 
„Es fehlt mir nichts, Mutter,“ sagte er. „Ich muß nur an etwas aus früherer Zeit denken.“
 
Die Sache aber war die: Als der Sohn bei seiner Heimkehr am Wirtshaus vorbeigekommen war, hatte ihn ein Pferdehändler gefragt, ob er nicht ein Pferd kaufen wolle. Dabei hatte er ihm einen alten Gaul gezeigt, der so jämmerlich zugerichtet war, daß der Bauer den Mann unwillkürlich mit den Worten anfuhr, er müsse ja verrückt sein, wenn er meine, er könne ihn mit so einer Schindmähre anführen.
 
„Ach nein,“ antwortete der Pferdehändler, „das meine ich nicht. Aber da dieses Pferd früher in Euerm Besitz war, dachte ich, Ihr hättet vielleicht Lust, ihm das Gnadenbrot zu gewähren, denn das tut ihm not.“
 
Da hatte der Bauer das Pferd näher angesehen und es wieder erkannt. Ja, er hatte es einst selbst großgezogen und eingefahren. Aber deshalb fiel es ihm doch nicht ein, so ein altes, unbrauchbares Tier zu kaufen. Nein, davon konnte keine Rede sein. Er gehörte nicht zu denen, die ihr Geld wegwarfen!
 
Trotzdem hatte der Anblick des Pferdes viele Erinnerungen in ihm wachgerufen, und diese Erinnerungen hielten ihn jetzt fest. Deshalb mochte er nicht zu Bett gehen.
 
Ach ja, dieses Pferd war ein gutes, ein flottes Tier gewesen! Sein Vater hatte es von Anfang an ihm allein überlassen. Er hatte es eingefahren, und es war ihm lieber gewesen als alles andre, was er sein eigen nannte. Der [223] Vater hatte sich beklagt, daß er es zu gut füttere, und da hatte er oft den Hafer für seinen Liebling stibitzt.
 
Solange er dieses Pferd hatte, ging er nie zu Fuß in die Kirche, sondern fuhr immer, und zwar aus keinem andern Grunde, als um mit seinem Pferde groß zu tun. Er selbst trug eigengewobene und eigengemachte Kleider, das Fuhrwerk war ärmlich und unangestrichen, aber das Pferd war das schönste Tier, das den Kirchenhügel hinauffuhr.
 
Einmal hatte er sich ein Herz gefaßt und seinen Vater gefragt, ob er sich nicht einen Tuchanzug kaufen und das Fuhrwerk mit Ölfarbe anstreichen dürfe. Aber der Vater hatte ihn wie versteinert angesehen, ja, der Sohn hatte einen Augenblick gefürchtet, den Vater werde der Schlag treffen. Er hatte dann versucht, seinem Vater begreiflich zu machen, daß er, wenn er mit einem so prächtigen Pferd fahre, selbst auch ein wenig hübsch aussehen sollte.
 
Der Vater hatte gar nichts gesagt, aber ein paar Tage nachher war er mit dem Pferd nach Örebro gegangen und hatte es da verkauft.
 
Das war grausam vom Vater gewesen; aber dieser hatte offenbar gefürchtet, das Pferd könnte den Sohn zur Eitelkeit und zur Verschwendung verleiten. Und jetzt, so lange nachher, mußte der Sohn zugeben, daß der Vater damals recht gehabt hatte. Ein solches Pferd konnte einem wohl zum Fallstrick werden. Aber im Anfang war ihm der Verlust seines Lieblings schrecklich nahe gegangen. Von Zeit zu Zeit war er nur deshalb nach Örebro gefahren, um, an einer Straßenecke stehend, das Pferd vorbeifahren zu sehen, oder um sich mit einem Stück Zucker zu ihm in seinen neuen Stall zu schleichen.
 
„Wenn der Vater stirbt und ich den Hof bekomme, dann kaufe ich mir mein Pferd wieder. Das ist das erste, was ich tue,“ hatte er damals gesagt.
 
Jetzt war der Vater tot, und er selbst saß schon seit mehreren Jahren auf dem Hofe; aber er hatte keinen einzigen Versuch gemacht, das Pferd wieder zu kaufen. Ja, seit langer Zeit hatte er an diesem Abend zum ersten Male wieder an das Tier gedacht.
 
Wie merkwürdig, daß er es so ganz und gar hatte vergessen können! Aber der Vater war ein sehr gebieterischer und eigensinniger Mann gewesen, und als der Sohn erwachsen war und die beiden den Hof miteinander bewirtschafteten, da hatte sein Vater große Gewalt über ihn bekommen. Schließlich dachte er, alles, was der Vater tat, sei gut und recht. Und als er dann selbst den Hof bekam, hatte er sich nur immer Mühe gegeben, in allem genau so zu handeln, wie sein Vater gehandelt hatte.
 
Er wußte ja wohl, daß die Leute sagten, sein Vater sei geizig gewesen; aber es war doch gewiß nur recht, wenn man den Geldbeutel fest zumachte und das Geld nicht unnötig zum Fenster hinauswarf. Man durfte das Hab und Gut, das einem anvertraut worden war, nicht vergeuden. Besser ein Geizhals heißen und auf einem schuldenfreien Hofe sitzen, als sich wie die andern Bauern mit großen Hypotheken herumschlagen müssen.
 
So weit war der Bauer in seinen Gedanken gekommen, als er plötzlich [224] heftig zusammenfuhr, weil er etwas Sonderbares gehört hatte. Es war, als ob eine laute, spottende Stimme gerade das wiederholte, was er eben gedacht hatte. „Es ist am besten, den Geldbeutel fest zuzumachen. Es ist besser, ein Geizhals heißen und auf einem schuldenfreien Hofe sitzen, als sich wie die andern Hofbesitzer mit Hypotheken herumschlagen müssen.“
 
Das klang gerade, als wolle sich jemand über seine Klugheit lustig machen, und er war auf dem Punkt, in Wut zu geraten, als er entdeckte, daß alles auf einem Irrtum beruhte. Draußen hatte sich ein heftiger Wind erhoben, er aber hatte die ganze Zeit hier gestanden und war schläfrig geworden; da hatte er das Heulen des Windes im Schornstein für eine menschliche Stimme gehalten.
 
Er wendete sich um und sah auf die große Wanduhr; es schlug eben elf Uhr. „Da ist es höchste Zeit, daß du zu Bett gehst,“ dachte er. Aber dann fiel ihm ein, daß er seine allabendliche Runde auf dem Hofe noch nicht gemacht hatte, um nachzusehen, ob alle Türen und Läden geschlossen und alle Lichter gelöscht seien. Dies hatte er noch nie unterlassen, seit er Herr auf dem Hofe geworden war. Rasch warf er seinen Rock über und ging in den Regen hinaus.
 
Draußen fand er alles, wie es sein sollte, nur die Tür der leeren Scheune war vom Wind aufgerissen worden. Er holte also den Schlüssel, verschloß die Scheune und steckte den Schlüssel in die Rocktasche. Dann kehrte er in die Stube zurück, zog den Rock aus und hängte ihn aufs neue vors Feuer. Aber er ging auch jetzt noch nicht zu Bett, sondern wanderte in der Stube hin und her. Das war doch ein gräßliches Wetter! So ein durchdringend kalter Wind und ein eisiger Schneeregen! Und sein altes Pferd stand nun da draußen, ohne auch nur eine Decke als Schutz gegen das Unwetter zu haben! Er müßte doch eigentlich hinausgehen und seinem alten Freund ein Obdach gewähren, da er nun doch einmal in diese Gegend gekommen war.
 
Jetzt hörte der Junge in dem gegenüberliegenden Gasthof eine alte Uhr mit schrillem Ton elf Uhr schlagen. Er war gerade im Begriff, die Tiere loszubinden, um sie in den Bauernhof hineinzuführen. Es dauerte ziemlich lange, bis er sie geweckt und aufgestellt hatte; aber schließlich war alles in Ordnung, und in einer langen Reihe, der Junge als Wegweiser voran, bewegte sich der Zug in den Hof des geizigen Bauern hinein.
 
Aber während der Junge mit den Tieren beschäftigt gewesen war, hatte der Bauer seine Runde beendet und das Scheunentor zugeschlossen. Als nun der Junge vor der Scheune ankam, war der Eingang versperrt. Ganz bestürzt blieb der Junge stehen. Aber nein, die armen Tiere konnte er nicht hier draußen lassen. Er mußte ins Haus hinein und sich den Schlüssel verschaffen.
 
„Sorge dafür, daß sie sich still verhalten, während ich den Schlüssel hole,“ sagte er zu dem alten Pferd. Mit diesen Worten eilte er davon.
 
Mitten auf dem Hofplatz hielt er an, um zu überlegen, wie er ins Haus hineinkommen sollte. Während er noch gedankenverloren dastand, sah er auf der Straße zwei kleine Wanderer daherkommen, und jetzt eben machten sie vor dem Wirtshaus halt.
 
[225]
 
Der Junge sah gleich, daß es zwei kleine Mädchen waren, und er lief auf sie zu, denn er dachte, sie würden ihm vielleicht helfen können.
 
„Komm, Britta Marie,“ sagte das eine von den Kindern, „jetzt darfst du nicht mehr weinen. Hier ist die Herberge. Hier bekommen wir gewiß ein Nachtlager.“
 
Kaum hatte das Mädchen dies gesagt, als der Junge ihr auch schon zurief: „Nein, ihr braucht gar nicht erst zu fragen, ob man euch im Wirtshaus aufnehmen wolle, denn das ist ganz unmöglich. Aber in dem Bauernhof hier sind keine Gäste. Gehet nur hinein!“
 
Die beiden kleinen Mädchen hörten die Worte deutlich, konnten aber den, der mit ihnen sprach, nicht sehen. Sie verwunderten sich indes nicht weiter darüber, denn ringsum war es stockdunkel. Das größere Mädchen erwiderte denn auch sogleich: „In diesen Hof wollen wir nicht hineingehen, denn die Leute, die darin wohnen, sind hart und geizig. Sie sind schuld daran, daß wir hier auf der Landstraße betteln gehen müssen.“
 
„Das ist wohl möglich,“ sagte der Junge. „Aber gehet trotzdem nur hinein; ihr werdet sehen, es läuft alles gut ab.“
 
„Nun, wir können es jedenfalls versuchen, aber man wird uns nicht einmal hineinlassen,“ sagten die beiden Kinder; damit gingen sie auf das Wohnhaus zu und klopften an die Tür.
 
Der Bauer stand noch immer am Feuer und dachte an sein altes Pferd; da drang das Klopfen der Kinder an sein Ohr. Er ging an die Haustür, um zu sehen, wer draußen sei, beschloß aber zugleich, sich gewiß nicht überreden zu lassen, irgendeinen Wanderer aufzunehmen. Aber in dem Augenblick, wo er einen Spalt an der Tür öffnete, lag auch schon die Windsbraut auf der Lauer. Sie riß dem Bauern die Tür aus der Hand und warf ihn selbst gegen die Wand zurück. Um die Tür wieder zuzuziehen, mußte er auf die Haustreppe hinaustreten, und als er in die Stube zurückkehrte, standen die beiden Kinder schon mitten darin.
 
Es waren zwei arme, schmutzige, in Lumpen gehüllte, halb verhungerte Bettelkinder, zwei kleine Mädchen, die unter der Last von zwei Bettelsäcken, die ebenso groß waren wie sie selbst, heftig keuchten.
 
„Was seid denn ihr für Pack, das noch so spät in der Nacht unterwegs ist?“ fragte der Bauer unfreundlich.
 
Die beiden Kinder antworteten nicht sogleich, sondern stellten zuerst ihre Säcke ab. Dann traten sie mit zum Gruß ausgestreckten Händen auf den Bauern zu. „Wir sind die Anne und die Britta Marie vom Engärd,“ sagte die ältere, „und wir möchten um eine Nachtherberge bitten.“
 
Der Bauer ergriff die ihm dargebotenen Händchen nicht, ja, er wollte die beiden Bettelmädchen gerade vor die Tür setzen, als eine neue Erinnerung vor ihm auftauchte. Das Engärd war ein kleines Haus, wo eine bedürftige Witwe mit ihren fünf Kindern gewohnt hatte. Die Witwe war dem alten Bauern einige hundert Kronen schuldig gewesen, und um seine Forderung zu befriedigen, hatte der Bauer ihre Hütte verkaufen lassen. Die Witwe war hierauf mit ihren drei ältesten Kindern nach Nordland gezogen, dort [226] Arbeit zu suchen, die beiden jüngeren aber waren der Gemeinde zur Last gefallen.
 
Dem Bauern stieg der Ärger auf, als er an dieses Vorkommnis dachte. Er wußte, wie sehr sein Vater im Kirchspiel verurteilt worden war, weil er das Geld verlangt hatte, das ihm doch von Rechts wegen gehört hatte.
 
„Was tut ihr denn gegenwärtig?“ fragte er mit barscher Stimme. „Sorgt denn der Armenpfleger nicht für euch? Warum streicht ihr auf der Landstraße umher und bettelt?“
 
 
„Wir können nichts dafür,“ antwortete das ältere Mädchen. „Die Leute, bei denen wir sind, haben uns auf den Bettel ausgeschickt.“
 
„Ja, und ihr könnt euch nicht beklagen, denn eure Säcke sind ja ganz voll,“ sagte der Bauer. „Es ist am besten, ihr esset euch an dem, was ihr darin habt, satt, denn hier gibt es nichts zu essen. Alle Frauenzimmer auf dem Hofe sind schon zu Bett. Und dann könnt ihr euch hier in die Ecke am Herd legen, da friert ihr nicht.“
 
Dabei machte er eine abwehrende Bewegung mit der Hand, wie um die Kinder zurückzuscheuchen, und seine Augen nahmen einen fast harten Ausdruck an, denn er dachte, er müsse ja froh sein, daß er einen Vater gehabt hatte, der um sein Besitztum besorgt gewesen war, sonst hätte er, der Sohn, vielleicht [227] auch als kleiner Junge mit dem Bettelsack umherlaufen müssen, wie diese Kinder hier.
 
Kaum hatte der Bauer diesen Gedanken zu Ende gedacht, als die gellende, spöttische Stimme, die er an diesem Abend schon einmal gehört hatte, Wort für Wort wiederholte. Er horchte und erkannte gleich, daß es keine Menschenstimme war, sondern nur der Wind, der im Schornstein sein Wesen trieb. Aber es war seltsam, sobald der Wind seine Gedanken in dieser Weise laut wiederholte, erschienen sie ihm merkwürdig dumm, hartherzig und falsch.
 
Die Kinder hatten sich indessen nebeneinander auf dem harten Boden ausgestreckt; aber sie waren nicht still, sondern murmelten noch etwas vor sich hin.
 
„Wollt ihr wohl schweigen!“ rief der Bauer. Er war jetzt in so gereizter Stimmung, daß er die Kinder hätte schlagen können.
 
Aber das Gemurmel hörte nicht auf, obgleich er den Kindern noch einmal barsch zu schweigen befahl.
 
„Als unsere Mutter von uns fortging,“ sagte da plötzlich eine helle Kinderstimme, „mußte ich ihr versprechen, mein Abendgebet nie zu vergessen. Dieses Versprechen muß ich halten und Britta Marie auch. Sobald wir: ‚Müde bin ich, geh zur Ruh, schließ die müden Augen zu‘ gebetet haben, sind wir ganz still.“
 
Der Bauer blieb wortlos sitzen und hörte die Kleinen ihr Abendgebet sprechen. Dann ging er mit langen Schritten im Zimmer hin und her, und zuweilen preßte er wie in großer Seelenangst die Hände zusammen.
 
Das Pferd zugrunde gerichtet! Die beiden Kinder zu umherstrolchenden Bettlern gemacht! Und beides das Werk seines Vaters! Ach, was der Vater getan hatte, war am Ende doch nicht immer ganz recht gewesen!
 
Er warf sich auf einen Stuhl und stützte den Kopf in die Hände. Plötzlich begann es in seinem Gesicht zu zucken; die Tränen traten ihm in die Augen, aber rasch wischte er sie weg. Doch neue Tränen drangen hervor, und es half nichts, daß er auch diese eilig wegwischte, es kamen immer neue.
 
Jetzt öffnete seine Mutter die Tür des Hinterstübchens, und eilig drehte der Bauer seinen Stuhl um, damit er ihr den Rücken zuwendete. Aber sie mußte doch etwas Außergewöhnliches gemerkt haben, denn sie blieb eine gute Weile hinter ihm stehen, wie wenn sie darauf wartete, daß er etwas sage. Dann fiel ihr ein, wie schwer es den Männern immer wird, von dem zu sprechen, was sie am tiefsten berührt; ja, sie mußte ihm wohl ein wenig helfen.
 
Vom Hinterstübchen aus hatte sie gesehen, was sich in der großen Stube zugetragen hatte; sie brauchte deshalb nicht zu fragen. Sie ging nur ganz leise zu den beiden schlafenden Kindern hin, hob sie auf, trug sie ins Hinterstübchen und legte sie da in ihr eigenes Bett. Dann kam sie wieder zu dem Sohne heraus.
 
„Du, Lars,“ sagte sie und tat, als sähe sie gar nicht, daß er weinte. „Laß mich die Kinder hier behalten!“
 
„Was sagst du, Mutter?“ fragte er und versuchte seine Tränen zu unterdrücken.
 
[228]
 
„Ich habe sie schon immer herzlich bedauert, gleich damals, als dein Vater ihrer Mutter das Haus verkaufte. Und auch du hast Mitleid mit ihnen gehabt.“
 
„Ja, aber …“
 
„Ich möchte sie gerne hier behalten und ordentliche Menschen aus ihnen machen. Sie sind zu gut zum Betteln.“
 
Der Bauer konnte nichts erwidern, denn jetzt stürzten ihm die hellen Tränen aus den Augen; er ergriff die runzlige Hand seiner Mutter und streichelte sie.
 
 
Doch plötzlich fuhr er, wie von Angst erfaßt, jäh auf. „Was würde der Vater dazu sagen?“ rief er.
 
„Der Vater hat zu seiner Zeit hier geherrscht, jetzt ist die deinige gekommen. Solange der Vater lebte, mußte ihm gehorcht werden. Jetzt aber ist die Reihe an dir, zu zeigen, wer du bist.“
 
Der Sohn war so überrascht über diese Worte, daß seine Tränen versiegten. „Aber ich zeige mich doch, wie ich bin!“ sagte er.
 
„Nein,“ erwiderte seine Mutter, „das tust du eben nicht. Du gibst dir nur alle Mühe, deinem Vater zu gleichen. Der aber hat harte Zeiten hier durchgemacht, und deshalb graute ihm vor der Armut. Er meinte, er sei verpflichtet, [229] in erster Linie nur immer an sich selbst zu denken. Du aber hast solche schwere Zeiten, die dich hätten hart machen können, nie gekannt. Du hast mehr, als du brauchst, und da wäre es unnatürlich, wenn du nicht auch an andre denken würdest.“
 
Hinter den beiden Kindern war der Junge ins Haus und in die Stube hineingeschlüpft und hatte sich da in einem dunkeln Winkel versteckt. Schon im ersten Augenblick hatte er den Scheunentürschlüssel, der aus der Rocktasche des Bauern herausguckte, entdeckt.
 
„Wenn der Bauer die Kinder fortschickt, nehme ich den Schlüssel und laufe mit ihm davon,“ dachte er.
 
Aber dann wurden die Kinder nicht fortgeschickt; der Junge mußte in seinem Winkel sitzen bleiben und wußte nicht, was er tun sollte. Die Mutter sprach lange mit ihrem Sohn, und während sie mit ihm sprach, hörte dieser auf zu weinen; schließlich nahm sein Gesicht einen geradezu schönen Ausdruck an, es war, als sei er ein ganz andrer Mensch geworden, und noch immer streichelte er die alte runzlige Hand seiner Mutter.
 
„Jetzt müssen wir aber doch zu Bett gehen,“ sagte die Mutter, als sie sah, daß er seine Fassung wieder erlangt hatte.
 
„Nein,“ sagte er und stand rasch auf, „ich kann noch nicht zu Bett gehen. Draußen ist noch ein Gast, dem ich ein Obdach für die Nacht geben muß.“
 
Mehr sagte er nicht, er warf nur rasch seinen Rock über, zündete eine Laterne an und ging hinaus. Draußen war es noch ebenso kalt und regnerisch, aber als er auf die Haustreppe trat, summte er eine Melodie vor sich hin. Er fragte sich, ob ihn das Pferd wohl erkennen, und ob es sich freuen werde, wenn es wieder in seinen alten Stall hineinkäme.
 
Als er über den Hofplatz ging, hörte er eine Tür im Winde auf- und zuschlagen. „Der Wind hat die Scheunentür wieder aufgerissen,“ dachte er und ging hin, sie abermals zu schließen.
 
Im nächsten Augenblick stand er vor der Scheune, und er wollte eben die Tür zumachen, da war es ihm, als ob sich drinnen etwas bewegte.
 
Das kam aber daher, daß der Junge die Gelegenheit benützt und mit dem Bauern zu gleicher Zeit das Haus verlassen hatte. Rasch war er an die Scheune gelaufen, vor der er die Tiere verlassen hatte. Aber diese standen nicht mehr im Regen draußen. Ein heftiger Windstoß hatte schon lange die Scheunentür abermals aufgerissen und so den armen Tieren ein Dach über dem Kopf verschafft. Und das Geräusch, das der Bauer gehört hatte, hatte von dem Jungen hergerührt, als er in die Scheune hineinlief.
 
Jetzt leuchtete der Bauer mit seiner Laterne hinein, und da sah er, daß die ganze Tenne voll von schlafendem Vieh lag. Kein Mensch war zu sehen. Die Tiere waren nicht angebunden, sie hatten sich auf dem Stroh niedergelegt, wie es eben ging.
 
Der Bauer wurde zornig über diese uneingeladenen Gäste; er begann zu rufen und zu schelten, um sie zu wecken und hinauszujagen. Aber die Tiere [230] blieben ganz still liegen, wie wenn sie sich durchaus nicht stören lassen wollten. Ein einziges erhob sich, ein altes Pferd, und kam ruhig auf den Bauern zu.
 
Und plötzlich verstummte der Bauer. Schon am Gang erkannte er dieses Tier. Er hob die Laterne, das Pferd kam zu ihm heran und legte ihm den Kopf auf die Schulter.
 
Liebevoll streichelte ihm der Bauer die Nase. „Mein altes gutes Pferd! Alter guter Kerl!“ sagte er. „Was haben sie mit dir gemacht? Jawohl, mein alter Freund, ich werde dich kaufen. Du sollst nie wieder vom Hofe hier vertrieben werden, und du sollst es so gut haben, wie du dir nur wünschen kannst, mein guter Alter. Die andern, die du mitgebracht hast, dürfen hier übernachten, du aber kommst mit mir in den Stall. Jetzt darf ich dir so viel Hafer geben, als du nur fressen kannst, ohne daß ich ihn stibitzen muß. Du wirst wohl auch noch nicht ganz zugrunde gerichtet sein. Das schönste Pferd auf dem Kirchplatz, das wirst du wieder sein. Ja, wie einst! So, so, mein gutes Tier, so so!“ 

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