Unter solchen weniger anstrengenden Überlegungen war ich ganz in
Gedanken zum Zeitungskrämer spaziert, unbehelligt, kaum bis nicht
erkannt, die Situation kam mir merkwürdig vertraut vor, aber erst die
Worte des Zeitungskrämers hatten mir deutlich gemacht, woran es
lag. Es war jene zauberhafte Stimmung, wie ich sie in meinen
Anfängen in München nur zu oft erlebt hatte – nach meiner
Entlassung aus der Festungshaft, ich war in München leidlich bekannt,
noch war ich nur ein kleiner Parteivorsitzender, ein Redner, der dem
Volke ins Herz schaute, und es waren die kleinen und kleinsten Leute,
die mir in bewegender Weise ihre Zuneigung zuteil werden ließen. Ich
ging über den Viktualienmarkt, die ärmsten Marktweiblein winkten
mich freundlich zu sich, gaben mir einmal zwei Eier, ein Pfund Äpfel,
man kam nach Hause wie der reinste Fourageur, wo einen die
Vermieterin strahlend begrüßte, und die ehrliche Freude leuchtete
ihnen so gleißend hell aus ihren Gesichtern wie in jenem Augenblicke
dem Zeitungshändler. Und dieses Gefühl von damals, es kam so
schnell über mich, noch bevor ich es selbst begreifen konnte, so
überwältigend, dass ich rasch in eine andere Richtung blickte. Aber
der Zeitungskrämer hatte natürlich aufgrund seiner langen
Berufserfahrung eine beeindruckende Menschenkenntnis erworben,
wie sie sonst nur manchen Droschkenfahrern zu eigen ist.
Ich hustete verlegen und sagte: »Keinen Kaffee, bitte. Eine Tasse
Tee wäre schön. Oder ein Glas Wasser.«
»Kein Problem, kein Problem«, sagte er und füllte Wasser in einen
Wasserkocher, ähnlich wie ich ihn in meinem Hotelzimmer hatte. »Ich
hab die Zeitungen neben dem Sessel aufgehoben. Es sind nicht sehr
viele, ich denke, das Internet ist da wohl die bessere Adresse.«
»Ja, dieses Internetz«, sagte ich zustimmend und setzte mich.
»Eine sehr gute Einrichtung. Ich glaube auch nicht, dass mein Erfolg
vom Wohlwollen der Zeitungen abhängig sein wird.«
»Ich will Ihnen ja nicht den Spaß verderben«, sagte der
Zeitungskrämer, während er Teebeutel aus einem Fach holte, »aber
Sie müssen keine Angst haben … Die, die Sie gesehen haben, mögen
Sie.«
»Ich habe keine Angst«, stellte ich klar, »was gilt schon die Meinung
eines Kritikers?«
»Na ja …«
»Nichts«, sagte ich, »nichts! Sie hat in den Dreißigern nichts gezählt,
sie zählt jetzt nichts. Diese Kritiker erzählen den Leuten immer nur,
was sie glauben sollen. Das gesunde Volksempfinden ist ihnen gleich.
Nein, in seiner Seele weiß das Volk auch ohne unsere Herren Kritiker,
was es zu denken hat. Wenn das Volk gesund ist, weiß es sehr gut,
was etwas taugt und was nicht. Braucht der Bauer einen Kritiker, der
ihm sagt, was die Erde taugt, in der er seinen Weizen anbaut? Der
Bauer weiß es selbst am besten.«
»Weil er täglich seinen Acker sieht«, sagte der Zeitungskrämer,
»aber Sie sieht er nicht jeden Tag.«
»Dafür sieht er täglich in das Fernsehgerät. Da hat er einen guten
Vergleich. Nein, der Deutsche braucht keinen Meinungsvorbeter. Er
bildet sich seine Meinung selbst.«