»Da bist du also!«
Diese Worte, mit silberheller Stimme gesprochen, verscheuchten die verschwommenen Gestalten seines Schlafes. Beim Schimmer der Lampe sah er Pauline auf seinem Bette sitzen, aber eine Pauline, die durch die Trennung und durch den Schmerz noch schöner geworden war. Raphael war betroffen beim Anblick dieses Gesichtes, das weiß war wie die Blumenblätter einer Seerose und das, von den langen schwarzen Haaren umflossen, im Dunkel des Zimmers noch bleicher schien. Tränen hatten ihre glitzernde Spur über ihre Wangen gezogen und hingen dort, bereit, bei der geringsten Bewegung herabzutropfen. Weiß gekleidet, den Kopf geneigt und das Bett kaum berührend, saß sie da, und so schien sie ein Engel zu sein, der vom Himmel herabgekommen war, eine Erscheinung, die ein Hauch verwehen konnte.
»Ah, ich habe alles vergessen!« rief sie in dem Augenblick, wo Raphael die Augen aufschlug. »Ich habe nur eine Stimme, um dir zu sagen: Ich bin dein! Ja, mein Herz ist nur Liebe. Ach, Engel meines Lebens, niemals warst du so schön. Wie deine Augen blitzen! Ach geh, ich ahne alles. Du hast deine Gesundheit gesucht, ohne mich, du hast mich gefürchtet . . . Nun . . .«
»Flieh! Flieh! Laß mich allein!« sprach Raphael endlich mit dumpfer Stimme. »So geh doch! Wenn du bleibst, sterbe ich. Willst du mich sterben sehen?«
»Sterben!« wiederholte sie. »Kannst du ohne mich sterben? Sterben, wo du so jung bist? Sterben, wo ich dich liebe? Sterben!« wiederholte sie immer wieder mit tiefer Stimme und griff wie rasend nach seinen Händen.
»Kalt!« sagte sie. »Träume ich?«
Raphael zog das Stückchen des Chagrinleders unter dem Kopfkissen hervor, das jetzt dünn und klein war wie das Blättchen des Immergrün, und zeigte es ihr. »Pauline, schönes Bild meines schönen Lebens, sagen wir uns Lebewohl!«
»Lebewohl?« wiederholte sie in tiefem Staunen.
»Ja. Das ist ein Talisman, der meine Wünsche erfüllt und mein Leben vorstellt. Sieh, was mir noch bleibt. Wenn du mich noch länger ansiehst, sterbe ich . . .«
Das junge Mädchen glaubte, Valentin sei wahnsinnig geworden, sie nahm den Talisman und holte die Lampe. In dem schwankenden Lichte, das Raphael und den Talisman in gleicher Weise aus dem Dunkel heraushob, sah sie gespannt auf das Gesicht ihres Geliebten und auf das letzte Stückchen des magischen Leders. Als er Pauline so sah, wie Angst und Liebe sie verschönte, war er nicht mehr Herr seiner Gedanken: die Erinnerung an die zärtlichen Stunden und die berauschenden Wonnen seiner Leidenschaft quoll übermächtig in seiner seit langem schlafenden Seele empor und loderte auf, gleich einem unzureichend gelöschten Brand.
»Pauline, komm! Pauline!«
Ein furchtbarer Schrei entrang sich dem jungen Mädchen; ihre Augen weiteten sich, ihre Augenbrauen, in unerhörtem Schmerz heftig zusammengezogen, teilten sich vor Grauen, sie las in Raphaels Augen ein rasendes Begehren, wie es einstmals ihr Stolz gewesen war; aber je größer dieses Verlangen wurde, um so mehr schrumpfte das Stückchen Leder kitzelnd in ihrer Hand. Außer sich, stürzte sie in das Nebenzimmer und schloß die Tür hinter sich. »Pauline! Pauline!« rief der Sterbende und eilte ihr nach, »ich liebe dich, ich bete dich an, ich begehre dich! Ich verfluche dich, wenn du nicht öffnest. Laß mich bei dir sterben!«
Mit einer sonderbaren Kraft, dem letzten Ausbruch des Lebens, stieß er die Tür auf und sah, wie sich seine Geliebte halbnackt auf dem Sofa wand. Pauline hatte vergebens versucht, sich die Brust zu zerfleischen; und um sich einen schnellen Tod zu geben, wollte sie sich mit ihrem Schal erdrosseln. »Wenn ich sterbe, wird er leben!« rief sie und versuchte umsonst die Schlinge, die sie gemacht hatte, festzuziehen. Ihre Haare waren gelöst, ihre Schultern entblößt, ihre Kleider in Unordnung, und in diesem Ringen um den Tod, die Augen tränenüberströmt, das Antlitz flammend, in dieser fürchterlichen Verzweiflung enthüllte sie dem liebestrunkenen Raphael tausend Schönheiten, die seinen rasenden Taumel noch steigerten. Behend wie ein Raubvogel stürzte er sich auf sie, zerriß den Schal und wollte sie umfangen.
Der Sterbende suchte nach Worten, um das Verlangen auszudrücken, das all seine Kräfte verzehrte; aber nur ersticktes Röcheln entrang sich seiner Brust, immer tiefer bohrte sich jeder Atemzug in seinen Körper und schien schließlich aus den Eingeweiden aufzusteigen. Als er zuletzt fast keinen Ton mehr hervorbrachte, grub er seine Zähne in Paulines Busen. Entsetzt von den Schreien, die er vernahm, kam Jonathas herbeigeeilt und versuchte dem jungen Mädchen den Leichnam zu entreißen, auf dem sie in einem Winkel des Gemachs kauerte.
»Was wollen Sie?« sagte sie; »er gehört mir, ich habe ihn getötet. Hatte ich es nicht vorhergesagt?«