»Psst«, sagte ich, »psst!«
Nichts geschah.
»Bormann«, rief ich nun leise. »Bormann! Sind Sie hier irgendwo?«
Eine Windbö stob durch das Gelände, eine leere Dose klapperte
gegen eine zweite. Sonst rührte sich nichts.
»Keitel?«, rief ich nun. »Goebbels?«
Aber niemand antwortete. Nun gut. So war es sogar noch besser.
Der Starke ist am mächtigsten allein. Wie ehedem galt dies auch in
dieser Stunde, jetzt mehr denn je. Hatte ich doch nunmehr Klarheit.
Alleine hatte ich das Volk zu retten. Alleine die Erde und alleine die
Menschheit. Und der erste Schritt auf dem Wege des Schicksals
führte in die Reinigung.
Meinen Beutel in der Hand, ging ich nun entschlossen zurück zu
meiner alten Schulbank, auf der ich die kostbarsten Lektionen meines
Lebens gelernt hatte: der Straße. Aufmerksam folgte ich dem Wege,
verglich Häuserzeilen und Straßenzüge, prüfte, wog, wägte, wagte.
Eine erste Bestandsaufnahme fiel dabei durchaus positiv aus: Das
Land oder zum Mindesten die Stadt wirkte trümmerfrei, aufgeräumt,
insgesamt konnte man ihr einen zufriedenstellenden Vorkriegszustand
bescheinigen. Die neuen Volkswagen fuhren offenbar zuverlässig,
leiser als früher, auch wenn sie ästhetisch nicht nach jedermanns
Geschmack waren. Was sofort jedoch dem klaren Blick ins Auge
stach, waren zahlreiche irritierende Schmierereien an allen Wänden.
Gewiss war mir die Technik vertraut, bereits damals in Weimar hatten
kommunistische Helfershelfer ihren bolschewikischen Unfug überall
hingekleckst. Und nicht zuletzt davon hatte ich selbst ja auch gelernt.
Aber damals konnte man die Parolen beider Seiten immerhin noch
lesen. Jetzt, stellte ich fest, waren zahlreiche Botschaften, die der
Urheber offenbar für wichtig genug erachtete, um die Häuserfassaden
braver Bürger damit zu entstellen, schlichtweg nicht zu entziffern. Ich
konnte nur hoffen, dass dies an der Unbildung möglicherweise linken
Gesindels lag, aber nachdem sich die Leserlichkeit der Botschaften
mit Fort-dauer meines Weges nicht und nicht änderte, musste ich
annehmen, dass sich dahinter womöglich auch so wichtige
Mitteilungen wie »Deutschland erwache« verbargen oder »Sieg heil!«.
Angesichts von so viel Dilettantismus kochte in mir sogleich ein
gewaltiger Zorn hoch. Da fehlte doch eindeutig die führende Hand, die
straffe Organisation. Besonders ärgerlich war dies angesichts der
Tatsache, dass manche dieser Schriften teilweise sogar mit viel Farbe
und sichtlicher Mühe verfertigt worden waren. Oder hatte man in
meiner Abwesenheit für politische Parolen eine eigene Schrift
entwickelt? Ich entschloss mich, der Sache auf den Grund zu gehen,
trat auf eine Dame zu, die an der Hand ihr Kind führte.
»Entschuldigen Sie die Störung, gnädige Frau«, sprach ich sie an
und wies mit der freien Hand auf eine beliebige der Wandaufschriften,
»was steht da?«
»Woher soll ich das wissen?«, fragte die Dame und bedachte mich
mit einem seltsamen Blick.
»Es kommt also auch Ihnen diese Schrift seltsam vor?«, forschte ich
weiter.
»Die Schrift schon auch«, sagte die Dame zögerlich und zerrte dann
ihr Kind weiter, »aber ist mit Ihnen alles in Ordnung?«
»Machen Sie sich keine Sorgen«, sagte ich, »ich gehe nur rasch zur
Reinigung.«
»Sie sollten lieber zum Friseur!«, rief die Frau.
Ich wandte den Kopf zur Seite, beugte ihn hinunter zur Scheibe
eines der neumodischen Automobile und musterte mein Antlitz. Der
Scheitel saß, wenn auch nicht exzellent, so doch gut, und der Bart
würde wohl in einigen Tagen etwas nachgeschnitten werden müssen,
aber insgesamt war ein Friseurbesuch fürs Erste nicht
kriegsentscheidend. Für eine gründlichere Leibwäsche, so kalkulierte
ich bei der Gelegenheit, war der kommende Tag oder auch Abend
strategisch vermutlich am günstigsten. So machte ich mich denn
wieder auf, vorbei an dieser allgegenwärtigen Wandpropaganda, die
genauso gut in chinesischen Zeichen dort hätte stehen können. Was
mir dabei jedoch ebenfalls auffiel, war, dass offenbar die Bevölkerung
in bewundernswertem Umfange mit Volksempfängern ausgerüstet
war. An zahllosen Fenstern waren Radar-Schüsseln angebracht, die
zweifellos dem Rundfunk dienten. Und wenn es mir nun gelänge, über
den Rundfunk zu sprechen, dann musste die Gewinnung neuer,
überzeugter Volksgenossen wohl ein Leichtes sein. Hatte ich nicht
vergeblich einem Radioprogramm gelauscht, das so klang, als würden
betrunkene Musiker das spielen, lallende Sprecher das vorlesen, was
hier so unverständlich an die Wand geschmiert worden war? Ich
brauchte nur verständliches Deutsch zu sprechen, das musste schon
genügen – eine Kleinigkeit. Beschwingt, zuversichtlich schritt ich aus,
sah schon in kurzer Ferne das Schild für einen »Blitzreinigung’sService Yilmaz« .