Nämlich ich.
Jedes einzelne Ereignis, so dröhnte es still in meinen Ohren, jeder
einzelne Sachverhalt damals war schon für sich allein genommen
unwahrscheinlicher gewesen als alles, was mir in den letzten zwei, drei
Tagen widerfahren war. Messerscharf bohrte sich jetzt mein Blick
durch das Dunkel zwischen einem Behälter für Dauerlutscher und
einem für Fruchtbonbons hindurch, wo das klare Mondlicht nüchtern
wie eine eisige Fackel meinen Geistesblitz illuminierte. Gewiss, dass
ein einsamer Streiter ein ganzes Volk aus einem Sumpf von Irrwegen
herausführte, eine wundersame Begabung, das konnte natürlich
vorkommen, einmal in hundert oder zweihundert Jahren. Aber was
wollte das Schicksal denn tun, wenn dieser kostbare Trumpf schon
ausgespielt war? Wenn im vorhandenen Menschenmaterial kein Kopf
sich fand, dem man die nötige Geistesgegenwart zusprechen konnte?
Dann musste es ihn wohl oder übel aus dem Talon der
Vergangenheit herüberretten.
Und es war das zwar fraglos eine Art Wunder, aber doch ein
unvergleichlich leichter zu bewältigendes denn die Aufgabe, dem Volke
aus dem vorhandenen minderwertigen Bleche ein neues scharfes
Schwert zu verfertigen. Und noch während diese Einsichten mein
unstetes Denken mit ihrer luziden Klarheit zu beruhigen begannen,
stieg eine neue Besorgnis aus meiner nunmehr hellwachen Brust.
Denn dieser Schluss führte zugleich einen weiteren herbei wie einen
ungeladenen Gast: Wenn denn das Schicksal zu einem solchen – und
man musste es ohne Umschweife so nennen – Taschenspielertrick
genötigt war, dann musste die Lage, obzwar sie auf den ersten Blick
eher ruhig geschienen hatte, in Wirklichkeit noch verheerender sein
als damals.
Und das Volk in umso größerer Gefahr!
Es war dieser Augenblick, in dem mir gleißend hell wie eine Fanfare
bewusst wurde, dass jetzt nicht mehr der Moment war, Zeit mit
akademischen Überlegungen zu verschwenden, im kleinlichen Brüten
über »wie« und »ob« zu versinken, wo doch das »Warum« und das
»Dass« die weitaus wesentlicheren Aspekte waren.
Jedoch galt es noch eine Frage zu beantworten: Warum ich? Wenn
doch so viele Große in der deutschen Geschichte auf eine zweite
Gelegenheit warteten, ihr Volk zu neuem Ruhm zu führen?
Warum nicht ein Bismarck, nicht ein Friedrich II.?
Ein Karl?
Ein Otto?
Die Antwort auf diese Frage fiel nach den anfänglichen
Überlegungen so leicht, dass ich beinahe geschmeichelt schmunzelte.
Denn die herkulische Aufgabe, die hier ihrer Bewältigung harrte,
schien wahrlich geeignet, selbst tapferste Männer, große und größte
Deutsche in die Schranken zu weisen. Allein, auf sich gestellt, ohne
Parteiapparat, ohne Regierungsgewalt, damit galt es denjenigen zu
betrauen, der bereits einmal gezeigt hatte, dass er zum Ausmisten
eines demokratischen Augiasstalles in der Lage gewesen war. Die
Frage, die es nun zu beantworten galt, war: Wollte ich all jene
schmerzlichen Opfer erneut, ein zweites Mal auf mich nehmen? Alle
Entbehrungen schlucken, ja voll Verachtung hinunterwürgen? In einem
Sessel nächtigen unweit eines Wasserkessels, in dem tagsüber
schlichte Rindswürstchen zum Verzehr erhitzt wurden? Und das einem
Volke zuliebe, das schon einmal im Ringen um seine Bestimmung
seinen Führer im Stich gelassen hatte? Was war denn gewesen mit
dem Angriff der Gruppe Steiner? Oder mit Paulus, diesem ehrlosen
Lump? Aber hier galt es dem Groll Einhalt zu gebieten, streng den
gerechten Zorn von der blinden Wut zu scheiden. So wie das Volk zu
seinem Führer stehen muss, so muss auch der Führer zu seinem
Volke stehen. Der einfache Landser hat unter der richtigen Führung
noch stets sein Bestes gegeben, kein Vorwurf ist ihm zu machen,
wenn er nicht treu ins feindliche Feuer marschieren kann, weil feiges,
pflichtvergessenes Generalsgesindel ihm den ehrlichen Soldatentod
unter den Stiefeln hinwegkapituliert.
»Ja!«, rief ich daher aus, ins Dunkel des Kiosks hinein. »Ja! Ich will!
Und ich werde! Ja, ja und abermals ja!«
Die Nacht antwortete mir mit schwarzer Stille. Dann ließ sich von
unfern ein einsamer Rufer vernehmen:
»Genau! Alles Arschlöcher!«
Es hätte mir eine Mahnung sein sollen. Doch wenn ich damals schon
von den zahllosen Mühen, den bitteren Opfern gewusst hätte, die ich
in der Folge würde bringen müssen, von den harten Qualen des
ungleichen Kampfes – ich hätte meinen Schwur nur umso kräftiger in
doppelter Lautstärke getan.