Ich blickte auf: »Ich wäre was?«
»Na, als wären Sie der Führer.« Dabei hob er beide Hände, er legte
Mittel- und Zeigefinger jeweils zusammen, krümmte sie vornüber und
zuckte mit ihnen zweimal auf und ab. Ich mochte es kaum glauben,
aber es schien so, dass dies nach sechsundsechzig Jahren alles war,
was vom einstmals strammen Deutschen Gruß noch existierte. Es war
erschütternd, aber immerhin ein Zeichen, dass mein politisches
Wirken zwischenzeitlich nicht vollkommen folgenlos geblieben war.
Ich klappte den Arm zurück, den Gruß erwidernd: »Ich bin der
Führer!«
Er lachte wieder: »Wahnsinn, das wirkt so natürlich.«
Ich konnte mich mit seiner penetranten Heiterkeit nicht recht
befassen. Mir wurde meine Lage nach und nach bewusst. Wenn dies
kein Traum war – und dafür dauerte es deutlich zu lange –, dann
befand ich mich tatsächlich im Jahre 2011. Dann war ich also in einer
Welt, die mir völlig neu war, und ich musste annehmen, dass ich
umgekehrt auch für diese Welt ein neues Element darstellte. Wenn
diese Welt auch nur ansatzweise logisch funktionierte, dann erwartete
sie von mir, entweder 122 Jahre alt zu sein oder, was
wahrscheinlicher war, seit Langem tot.
»Spielen Sie auch andere Sachen?«, fragte er. »Habe ich Sie schon
mal gesehen?«
»Ich spiele nicht«, antwortete ich, wohl etwas barsch.
»Natürlich nicht«, sagte er und machte ein merkwürdig ernstes
Gesicht. Dann zwinkerte er mir zu. »Wo treten Sie auf? Haben Sie ein
Programm?«
»Selbstverständlich«, entgegnete ich, »seit 1920! Sie werden als
Volksgenosse ja wohl die 25 Punkte kennen.«
Er nickte eifrig.
»Trotzdem, ich hab Sie noch nirgends gesehen. Haben Sie einen
Flyer? Oder eine Karte?«
»Leider nein«, sagte ich betrübt, »die Karte ist im Lagezentrum.«
Ich versuchte mir darüber klar zu werden, was ich als Nächstes tun
musste. Es schien einleuchtend, dass auch in der Reichskanzlei, dass
selbst im Führerbunker ein 56-jähriger Führer auf Unglauben stoßen
konnte, ja sicher stoßen würde. Ich musste Zeit gewinnen, meine
Optionen analysieren. Ich brauchte eine Bleibe. Mir wurde plötzlich
schmerzlich bewusst, dass ich keinen Pfennig Geld in der Tasche
hatte. Für einen Moment erinnerte ich mich unangenehm an die Zeit
im Männerwohnheim, 1909. Sie war notwendig gewesen, gewiss, sie
hatte mir Einblicke verschafft, wie sie keine Universität der Welt
vermitteln kann, und dennoch, es war diese Phase der Entbehrungen
keine Zeit gewesen, die ich genossen hätte. Die finsteren Monate
schossen mir durch den Kopf, die Missachtung, die Geringschätzung,
die Unsicherheit, das Bangen um das Nötigste, das trockene Brot.
Grüblerisch, abwesend biss ich in das seltsame Folienkorn.
Es schmeckte erstaunlicherweise süß. Ich musterte das Produkt.
»Ich mag die auch«, sagte der Zeitungskrämer, »wollen Sie noch
einen?«
Ich schüttelte den Kopf. Ich hatte jetzt größere Probleme. Es galt,
das schlichteste, das primitivste tägliche Auskommen zu sichern. Ich
brauchte Unterkunft, etwas Geld, bis ich weitere Klarheit gewonnen
haben würde, ich brauchte vielleicht eine Arbeit, wenigstens
vorübergehend, bis ich wusste, ob und wie ich wieder meine
Regierungstätigkeit würde aufnehmen können. Bis dahin war eine
Form des Broterwerbs nötig. Vielleicht als Maler, vielleicht in einem
Architekturbüro. Selbstverständlich war ich mir fürs Erste auch nicht
zu schade zu körperlicher Arbeit. Natürlich wären meine Kenntnisse
für das Deutsche Volk bei einem Feldzug vorteilhafter eingesetzt
gewesen, aber in Unkenntnis der aktuellen Lage war das illusionär. Ich
wusste ja nicht einmal, mit wem das Deutsche Reich überhaupt
gerade eine gemeinsame Grenze hatte, wer sie zu verletzen suchte,
gegen wen man zurückschießen konnte. Insofern musste ich mich
wohl zunächst mit dem Einbringen der Fähigkeiten meiner Hände
bescheiden, vielleicht beim Bau eines Aufmarschgeländes oder eines
Autobahnabschnitts.