Vermutlich wirkte ich den Hitlerjungen nicht hilfsbedürftig genug, sie
machten den Eindruck, als wollten sie ihr Fußballspiel wieder
aufnehmen, jedenfalls wandte sich der größte nun zu seinen
Kameraden um, wodurch ich seinen Namen lesen konnte, den ihm
seine Mutter auf das geradezu grellbunte Sportleibchen gewirkt hatte.
»Hitlerjunge Ronaldo! Wo geht es zur Straße?«
Die Reaktion war dürftig, ich muss leider sagen, dass die Truppe so
gut wie nicht aufmerkte, einer der beiden Kleineren zeigte jedoch im
Gehen schwunglos mit dem Arm auf einen Winkel des Grundstücks, in
dem sich bei näherer Betrachtung tatsächlich ein Durchgang
andeutete. Ich machte mir im Geiste einen Vermerk im Sinne von
»Rust entlassen« oder »Rust entfernen«, seit 1933 war der Mann im
Amt, und gerade im Bildungswesen ist kein Platz für eine derart
bodenlose Schlamperei. Wie soll ein junger Soldat den siegreichen
Weg nach Moskau finden, in das Herz des Bolschewismus, wenn er
nicht einmal seine eigenen Befehlshaber erkennt!
Ich bückte mich, hob meine Mütze auf und lief, sie aufsetzend, mit
festem Schritte in die gewiesene Richtung. Es ging um eine Ecke,
dann folgte ich einem schmalen Durchweg zwischen hohen Wänden,
an dessen Ende das Licht der Straße leuchtete. Eine scheue Katze
drängte sich an der Wand an mir vorbei, sie war bunt gefleckt und
ungepflegt, dann tat ich noch vier, fünf Schritte und trat hinaus auf die
Straße.
Mir stockte der Atem angesichts des gewaltigen Ansturms von Licht
und Farbe.
Ich erinnerte mich, die Stadt zuletzt sehr staub- oder auch feldgrau
wahrgenommen zu haben, auch mit erheblichen Trümmerbergen und
Beschädigungen. Doch vor mir lag nichts dergleichen. Die Trümmer
waren verschwunden oder zumindest sauber entfernt, die Straßen
geräumt. Stattdessen standen an den Straßenrändern zahlreiche, ja
zahllose bunte Wagen, die wohl Automobile sein mochten, aber sie
waren kleiner, und dennoch schienen bei ihrem Entwurf überall die
Messerschmitt-Werke federführend mitgewirkt zu haben, so
fortschrittlich muteten sie an. Die Häuser waren sauber gestrichen, in
unterschiedlichen Farben, die mich mitunter an Zuckerwerk in meiner
Jugend erinnerten. Ich bekenne, mir wurde ein wenig schwindelig.
Mein Blick suchte nach Vertrautem, ich sah eine schäbige Parkbank
auf einem Grünstreifen jenseits der Fahrbahn, ich machte einige
wenige Schritte, und ich schäme mich nicht zu sagen, dass sie
womöglich etwas unsicher gewirkt haben können. Ich hörte ein
Läuten, das Bremsen von Gummi auf Asphalt, und dann schrie mich
jemand an.
»Sachma, geht’s noch, Alter! Biste blind?«
»Ich – ich bitte um Entschuldigung …«, hörte ich mich sagen,
erschrocken und erleichtert zugleich. Neben mir stand ein Radfahrer,
wenigstens dieser Anblick war mir vergleichsweise vertraut, doppelt
zumal. Wir hatten nach wie vor Krieg, er trug zum Schutze einen von
vorherigen Angriffen wohl stark beschädigten, eigentlich völlig
durchlöcherten Helm.
»Wie läufst’n du überhaupt rum!«
»Ich – Verzeihung – ich … ich muss mich hinsetzen.«
»Du solltest dich eher mal hinlegen. Und zwar für länger!«
Ich rettete mich auf die Parkbank, ich werde wohl etwas blass
gewesen sein, als ich mich darauf fallen ließ. Auch dieser jüngere
Mann schien mich nicht erkannt zu haben. Es gab hier schon wieder
keinen Deutschen Gruß, die Reaktion sah aus, als habe er nur fast
einen x-beliebigen, herkömmlichen Passanten gerammt. Und dieser
Schlendrian schien die allseits geübte Praxis zu sein: Ein älterer Herr
ging an mir vorbei, kopfschüttelnd, eine voluminöse Dame mit einem
futuristischen Kinderwagen – ein weiteres vertrautes Element, doch
auch dies vermochte meine desperate Lage nicht auswegreicher zu
gestalten. Ich hatte mich erhoben, war mit um Festigkeit bemühter
Haltung an sie herangetreten.