Dieser Satz klang Raphael seltsam schrill und widerwärtig im Ohr; er war wie das Wort, das einem Freund, auf den wir bauten, unvorsichtig entschlüpft und das den süßen Wahn der Freundschaft zerreißt und uns in einen Abgrund des Egoismus blicken läßt. Der Marquis warf der alten Dame den kühlen Blick eines unzugänglichen Diplomaten zu, rief dann einen Diener und befahl diesem trocken: »Öffnen Sie das Fenster!«
Bei diesen Worten breitete sich auf allen Gesichtern lebhaftes Befremden aus. In der Gesellschaft entstand ein Geflüster, und man blickte den Kranken mit mehr oder weniger beredter Miene an, als hätte er sich sehr unziemlich benommen. Raphael, der seine frühere Jünglingsschüchternheit noch nicht abgelegt hatte, spürte eine Regung von Scham; aber er schüttelte seine Erstarrung ab, gewann seine Energie zurück und fragte sich, was diese seltsame Szene wohl bedeute. Blitzartig kam Leben in seine Gedanken, die Vergangenheit erschien ihm in einer deutlichen Vision: die Ursachen der Gefühle, die er hervorrief, sprangen scharf hervor wie die Adern eines Leichnams, an dem die Präparatoren durch eine zweckdienliche Einspritzung die geringsten Verästelungen gefärbt haben; er sah sich selbst in diesem flüchtigen Bilde, verfolgte sein Leben, Tag für Tag, Gedanken für Gedanken; er sah sich, nicht ohne Überraschung, düster und zerstreut inmitten dieser lachenden Welt; er gewahrte sich, wie er immer über sein Schicksal nachgrübelte, mit seinem Leiden beschäftigt war, das harmloseste Gespräch anscheinend verschmähte, wie er die flüchtigen Vertraulichkeiten scheute, die sich zwischen Reisenden schnell einstellen, weil sie zweifellos damit rechnen, einander nie wieder zu begegnen; er war kaum um die anderen bekümmert und glich letztendlich jenen Felsen, die gegen das Kosen wie gegen das Wüten der Wogen unerschüttert bleiben. Jetzt las er mit einer seltenen Gabe der Intuition in allen Seelen: im Schein eines Leuchters entdeckte er den gelben Schädel und das hämische Profil eines Greises und erinnerte sich, daß er ihm sein Geld abgewonnen hatte, ohne ihm Revanche einzuräumen; ein Stück weiter saß eine hübsche Frau, gegen deren kokette Winke er kalt geblieben war; jedes Gesicht warf ihm ein anscheinend unerklärliches Unrecht vor, sein Verbrechen bestand indes immer in einer unsichtbaren Verletzung der Eigenliebe. Ungewollt hatte er all die kleinen Eitelkeiten, die um ihn kreisten, beleidigt. Die Teilnehmer an seinen Festen oder diejenigen, denen er seine Pferde angeboten hatte, hatten sich über seinen Luxus geärgert; von ihrer Undankbarkeit überrascht, hatte er ihnen diese Art Demütigung erspart; von da an hielten sie sich für verachtet und warfen ihm Dünkel vor. Während er so auf dem Grund der Herzen las, konnte er ihre geheimsten Regungen entziffern; die Gesellschaft, ihre Höflichkeit, ihr Firnis waren ihm widerwärtig. Weil er reich und geistig überlegen war, wurde er beneidet und gehaßt; seine Schweigsamkeit enttäuschte die Neugier; seine Bescheidenheit schien diesen kleinlichen, oberflächlichen Leuten Hochmut. Er kannte jetzt das verborgene, das nicht wiedergutzumachende Verbrechen, das er gegen sie begangen hatte: er entzog sich dem Urteilsspruch ihrer Mittelmäßigkeit. Er lehnte sich gegen ihren zudringlichen Despotismus auf, er brauchte sie nicht; um sich für dieses heimliche Königtum zu rächen, hatten sich alle instinktiv verbündet, um ihn ihre Macht spüren zu lassen, ihn einer Art Scherbengericht zu unterwerfen und ihm zu zeigen, daß sie ihn gleichfalls nicht brauchten. Zuerst war er bei diesem Anblick der Welt voller Mitleid; aber bald schauderte ihn, wenn er an die seltsame Gabe dachte, die ihm so den körperlichen Schleier, unter dem die innere Natur geborgen ist, lüftete. Plötzlich senkte sich ein schwarzer Vorhang über dieses düstere Bild der Wahrheit, und er fand sich allein in der furchtbaren Einsamkeit, die das Los der Großen und Mächtigen ist. In diesem Augenblick überfiel ihn ein heftiger Hustenanfall. Anstatt ein einziges der gleichgültigen und banalen Worte zu vernehmen, mit denen die zufällig zusammengeführten Mitglieder der guten Gesellschaft wenigstens eine Art höfliches Mitleid heucheln, hörte er feindselige Rufe und leise gemurmelte Beschwerden. Die Gesellschaft gab sich nicht einmal mehr die Mühe, sich für ihn zu verstellen, vielleicht weil er sie doch durchschaut hätte.
»Seine Krankheit ist ansteckend.« – »Die Direktion müßte ihm verbieten, ins Kurhaus zu kommen.« – »Es ist ja wahrhaftig polizeiwidrig, so zu husten!« – »Jemand, der so krank ist, soll nicht ins Bad reisen.« – »Er wird mir den Aufenthalt verleiden.«
Raphael stand auf, um sich der allgemeinen Verwünschung zu entziehen, und ging im Saal auf und ab. Er wollte einen Schutz finden und näherte sich einer jungen Dame, die gelangweilt dasaß; er dachte, ihr einige Schmeicheleien zu sagen, aber als er herantrat, wandte sie ihm den Rücken und tat so, als sähe sie den Tänzern zu. Raphael fürchtete, an diesem Abend seinen Talisman schon gebraucht zu haben; er fühlte weder den Willen noch den Mut, ein Gespräch zu beginnen, so verließ er den Salon und zog sich in das Billardzimmer zurück. Da sprach niemand mit ihm, keiner grüßte ihn oder warf ihm auch nur den kürzesten wohlwollenden Blick zu. Sein von Natur aus nachdenklicher Geist enthüllte ihm wie in einer Eingebung die allgemeine und verständliche Ursache der Abneigung, die er hervorgerufen hatte. Diese kleine Welt gehorchte, vielleicht unbewußt, dem großen Gesetz, das die vornehme Gesellschaft regiert, deren unversöhnliche Moral sich vor Raphaels Augen völlig enthüllte. Er sah in die Vergangenheit zurück und erkannte das vollendete Urbild dieser Gesellschaft in Fœdora. Er konnte bei dieser Gesellschaft nicht mehr Mitgefühl für seine Leiden finden als bei Fœdora für die Qualen seines Herzens. Die feine Gesellschaft verbannt die Unglücklichen aus ihrer Mitte, wie ein Gesunder einen Krankheitsträger aus seinem Körper abstößt. Die Welt verabscheut Schmerzen und Unglück; sie fürchtet sie wie eine ansteckende Krankheit, und nie schwankt sie zwischen ihnen und den Lastern; das Laster ist ein Luxus. Wie erhaben ein Unglück auch sein mag, die Gesellschaft weiß es herabzuwürdigen, es durch ein Witzwort lächerlich zu machen; sie zeichnet Karikaturen, um den entthronten Königen den Schimpf an den Kopf zu werfen, den sie von ihnen erlitten zu haben glaubt; sie gleicht den jungen Römerinnen im Zirkus und begnadigt den gefallenen Gladiator nie; sie lebt von Gold und Boshaftigkeit. »Tod den Schwachen!« ist die Losung dieser Art Ritterorden, die es bei allen Völkern der Erde gibt; denn überall gibt es Reiche, und dieser Leitspruch ist tief in die Herzen eingegraben, die vom Reichtum verhärtet oder von aristokratischem Dünkel geschwollen sind. Man denke an die Kinder in einer Lehranstalt: das ist ein Bild der Gesellschaft im kleinen, aber ein Bild, das um so treffender ist, als es naiver und ehrlicher ist; stets gibt es da kleine Heloten, Menschenkinder, die zum Leiden und Dulden geschaffen sind und immer zwischen Verachtung und Mitleid stehen: ihrer ist das Himmelreich, sagt das Evangelium. Man steige auf der Stufenleiter der organischen Wesen noch etwas tiefer. Wenn unter dem Geflügel eines Hühnerhofs eins verletzt ist, dann hacken die anderen mit den Schnäbeln auf es ein, reißen ihm die Federn aus und töten es. Diesem Grundgedanken des Egoismus treu, geht die Welt gegen ein Unglück, das keck genug ist, ihre Feste zu stören, ihre Freuden zu trüben, mit grenzenloser Strenge vor. Wer am Körper oder an der Seele leidet, wem es an Geld oder an Macht fehlt, ist ein Paria. Er bleibe in seiner Verlassenheit! Überschreitet er ihre Grenzen, so findet er überall Kälte: frostige Blicke, frostiges Benehmen, kühle Worte, kalte Herzen. Er kann glücklich sein, wenn er da, wo er Tröstung suchte, nicht Schimpf und Schande erntet! Sterbende, bleibt in euren einsamen Betten! Greise, bleibt allein an eurem erloschenen Herd! Arme Mädchen ohne Mitgift, friert und brennt in euren leeren Dachstuben! Duldet die Welt einmal ein Unglück, dann nur, um es für ihren Gebrauch zurechtzumachen, daraus Gewinn zu schlagen, ihm einen Packsattel überzuschnallen, es an die Kandare zu nehmen, ihm eine Schabracke aufzulegen, es zu besteigen und ihren Spaß mit ihm zu treiben. Betrübte Gesellschaftsdamen, schafft euch vergnügte Gesichter an; ertragt die Launen eurer angeblichen Wohltäterin; tragt ihre Hunde spazieren; seid selbst ihre Affenpinscher, amüsiert sie, erratet ihre Wünsche und seid im übrigen still! Und du, König der Lakaien ohne Livree, gieriger Parasit, laß deinen Charakter zu Hause; verdaue genau so wie dein Gastgeber, weine seine Tränen, lache sein Lachen, sei entzückt über seine Witze; willst du dich über ihn lustig machen, warte, bis er in Staub gesunken ist. So ehrt die Welt das Unglück! Sie tötet es oder verjagt es, erniedrigt es oder kastriert es.