Valentin war zu Hause angelangt. Eine kalte Wut hatte ihn befallen; er glaubte an nichts mehr; seine Gedanken stritten in seinem Hirn, drehten sich und schwankten, wie es einem Menschen geht, der einer unmöglichen Tatsache ins Auge sieht. Er hätte gern an einen verborgenen Fehler in der Maschine Spieghalters geglaubt; auch die Ohnmacht der Wissenschaft und des Feuers hatte ihn nicht gewundert; aber die Geschmeidigkeit des Leders, als er es in die Hand nahm, und seine Widerstandsfähigkeit, als alle dem Menschen zur Verfügung stehenden Zerstörungsmittel gegen es gerichtet wurden, flößten ihm Grauen ein. Diese unbestreitbare Tatsache erregte ihm Schwindel.
»Ich bin wahnsinnig«, sagte er sich. »Ich habe seit heute morgen nichts gegessen und verspüre trotzdem weder Hunger noch Durst, und dabei fühle ich in der Brust eine brennende Glut.«
Er schob das Chagrinleder wieder in den Rahmen, in dem es bis vor kurzem gewesen war, und nachdem er mit roter Tinte die augenblicklichen Konturen des Talismans nachgezogen hatte, setzte er sich in seinen Lehnstuhl.
»Schon acht Uhr!« rief er. »Dieser Tag ist wie ein Traum vergangen.«
Er legte die Arme auf die Sessellehne, stützte den Kopf auf die linke Hand und blieb in düstere Betrachtungen, in jene verzehrenden Gedanken versunken, deren Geheimnis die zum Tode Verurteilten mit sich nehmen.
»Ach, Pauline!« rief er. »Armes Kind! Es gibt Abgründe, die selbst die Liebe nicht zu überwinden vermag, trotz der Kraft ihrer Flügel.« In diesem Augenblick hörte er ganz deutlich einen unterdrückten Seufzer. Er horchte auf, und infolge einer der rührendsten Vorzüge der Liebe erkannte er den Atem seiner Pauline. »Oh«, sagte er sich, »das ist mein Todesurteil. Wenn sie da wäre, wollte ich in ihren Armen sterben!«
Ein unbeschwertes, fröhliches Lachen erklang. Er wandte den Kopf nach seinem Bett und sah durch die durchscheinenden Vorhänge Paulines Gesicht. Sie strahlte, glücklich wie ein Kind, das sich über einen gelungenen Streich freut; ihr schönes Haar fiel ihr in tausend Locken über die Schultern; sie glich einer bengalischen Rose in einem Blütenmeer weißer Rosen.
»Ich habe Jonathas verleitet«, sagte sie; »gehört dieses Bett nicht mir, bin ich nicht deine Frau? Schilt nicht, Geliebter, ich wollte nur in deiner Nähe schlafen, wollte dich überraschen. Verzeih mir die Torheit!« Sie sprang wie eine Katze aus dem Bett, stand strahlend schön in ihrem Musselin vor Raphael und setzte sich ihm auf den Schoß. »Von welchem Abgrund sprachst du denn, Liebster?« fragte sie, und ihre Stirn zeigte ihre Besorgnis.
»Vom Tode.«
»Du tust mir weh«, antwortete sie; »es gibt Vorstellungen, die wir armen Frauen nicht ertragen können; sie töten uns. Kommt es von unserer starken Liebe oder vom Mangel an Mut? Ich weiß es nicht. Der Tod schreckt mich nicht.« Dabei lachte sie schon wieder. »Mit dir morgen früh in einem letzten Kuß zu sterben wäre eine Wonne. Mir ist, als hätte ich schon mehr als 100 Jahre gelebt. Was liegt an der Zahl der Tage, wenn wir in einer Nacht, in einer Stunde ein ganzes Leben voller Frieden und Glück ausgeschöpft haben?«
»Du hast recht. Aus deinem holden Mund spricht der Himmel. Laßt ihn mich küssen, und dann wollen wir sterben.«