»Die öffentliche Meinung? Das ist doch eine ganz lasterhafte käufliche Dirne. Wenn man euch Männern der Moral und Politik zuhört, so müßte man stets eure Gesetze der Natur, die öffentliche Meinung dem Gewissen vorziehen. Geht mir, alles ist wahr, alles ist falsch! Wenn uns die Gesellschaft die Daunen zu Kopfkissen gab, so hat sie diese Wohltat sicherlich durch die Gicht quitt gemacht, so wie sie uns die Prozeßordnung zur Einschränkung der Gerechtigkeit und den Schnupfen als Folgeerscheinung des Kaschmirschals gebracht hat.«
»Ungeheuer!« rief Émile und unterbrach den Menschenfeind, »wie kannst du die Zivilisation angesichts dieser Weine, dieser köstlichen Speisen, mit denen du dich vollgeschlagen hast, schmähen? Friß dieses Reh samt den vergoldeten Läufen und Hörnern, nicht aber deine Mutter.«
»Ist es meine Schuld, wenn der Katholizismus schließlich dahin kommt, eine Million Götter in einen Mehlsack zu stecken, wenn die Republik immer auf einen Napoleon hinausläuft, wenn das Königtum zwischen der Ermordung Heinrichs IV. [Fußnote] und der Hinrichtung Ludwigs XVI. sitzt, wenn der Liberalismus zu La Fayette [Fußnote] wird? Haben Sie sich ihm im Juli angeschlossen?«
»Nein.«
»Dann schweigen Sie, Skeptiker!«
»Die Skeptiker sind die gewissenhaftesten Menschen.«
»Sie haben kein Gewissen.«
»Was sagen Sie da? Sie haben mindestens zwei.«
»Den Himmel diskontieren! Sehen Sie, das ist eine wahrhaft kaufmännische Idee. Die antiken Religionen waren nur eine glückliche Entwicklung der physischen Lust; aber wir, wir haben die Seele und die Hoffnung entwickelt; das ist Fortschritt.«
»Ach, meine lieben Freunde, was können Sie von einem mit Politik gemästeten Jahrhundert erwarten?« sagte Nathan; »was war das Schicksal der ›Geschichte des Königs von Böhmen und seiner sieben Schlösser‹, [Fußnote] dieses reizenden Entwurfs . . .«
»Was?« rief der Krittler vom andern Ende der Tafel »das sind hohle Phrasen, auf gut Glück aus dem Hutfutter herausgezogen, ein Machwerk für die Irren in Charenton.« [Fußnote]
»Sie sind ein Hohlkopf!«
»Sie sind ein Narr!«
»Oh, oh!«
»Ah, ah!«
»Sie werden sich schlagen.«
»Nein.«
»Auf morgen, Monsieur.«
»Nein, sofort«, erwiderte Nathan.
»Los doch! Ihr seid zwei mutige Streiter.«
»Sie sind auch einer«, sagte der Herausforderer.
»Sie können sich nur nicht mehr gerade halten.«
»Wie, halte ich mich etwa nicht gerade?« rief der kampfeslustige Nathan, indem er sich schwankend wie ein Papierdrache erhob.
Er warf einen stumpfsinnigen Blick auf den Tisch; dann fiel er, wie entkräftet von dieser Anstrengung, in seinen Stuhl zurück, ließ den Kopf hängen und verstummte ganz.
»Wäre es nicht spaßhaft«, sagte der Nörgler zu seinem Nachbarn, »mich wegen eines Buches zu schlagen, das ich weder gesehen noch gelesen habe?«
»Émile, nimm deinen Rock in acht, dein Nachbar wird ganz blaß.«
»Kant, Monsieur? Auch so ein Ballon, den man aufsteigen ließ, um die Flachköpfe zu amüsieren. Materialismus und Spiritualismus, das sind zwei hübsche Rackets, mit denen Scharlatane in Roben denselben Ball schlagen. Ob Gott in allem sei, wie Spinoza sagt, oder ob alles von Gott kommt, wie Sankt Paulus sagt . . . Dummköpfe! Eine Tür öffnen oder schließen, ist das nicht dieselbe Bewegung? Kommt das Ei von der Henne oder die Henne vom Ei? (Reichen Sie mir mal den Entenbraten!) Das ist die ganze Wissenschaft.«
»Einfaltspinsel! rief ihm der Gelehrte zu, »die Frage, die du stellst, ist durch ein Faktum entschieden.«
»Welches?«
»Sind die Lehrstühle der Professoren für die Philosophie da oder aber die Philosophie für die Lehrstühle? Setz deine Brille auf und lies das Budget.«
»Spitzbuben!«
»Schafsköpfe!«
»Gauner!«
»Narren!«
»Wo anders als in Paris fände man einen so lebhaften und zügigen Gedankenaustausch«, rief Bixiou mit feierlichem Baß.