Er hatte die großen Ausdrucksformen des Gesellschaftslebens gesehen: den Gehorsam, den Kampf und die Revolte oder – die Familie, die Welt und Vautrin. Und er wagte nicht, Partei zu ergreifen. Der Gehorsam war langweilig, die Revolte unmöglich, der Kampf unsicher. Seine Gedanken schweiften zum Leben im Schoße der Familie zurück. Er entsann sich der reinen Empfindungen, dieses ruhigen Daseins, der Tage im Kreise der Seinen, deren Liebling er war. In der Anpassung an die natürlichen Gesetze des häuslichen Herdes fanden diese Wesen, die ihm so teuer waren, ihr volles dauerndes Glück. Aber trotz dieser guten Gedanken hatte er nicht den Mut, Delphine den Glauben der reinen Seelen zu beichten, von ihr im Namen der Liebe die Tugend zu fordern, seine weltmännische Erziehung hatte bereits ihre Früchte gezeitigt. Schon liebte er egoistisch. Sein Spürsinn hatte ihn den Charakter Delphines erkennen lassen. Er fühlte, daß sie imstande war, über die Leiche ihres Vaters zum Ball zu gehen. Er brachte weder die Kraft auf, ihr Vernunft zu predigen, noch den Mut, ihr zu mißfallen, noch die Tugendstärke, sie zu verlassen.
Sie würde es mir niemals verzeihen, dachte er, wenn ich in dieser Lage ihr gegenüber recht behielte.
Dann suchte er sich selbst die Erklärungen des Arztes umzudeuten; er gefiel sich in dem Gedanken, die Krankheit des Vaters Goriot sei nicht so gefährlich, wie er angenommen habe. Er suchte Delphine mit Argumenten, wie sie eines Mörders würdig gewesen wären, zu rechtfertigen. Sie kannte, so sagte er sich, nicht den wahren Zustand, in dem sich ihr Vater zur Zeit befand. Der Alte selbst würde sie zum Ball schicken, wenn sie ihn besuchte. Oft verurteilen die unversöhnlichen Gesetze der Gesellschaft da, wo das scheinbare Verbrechen durch die zahllosen Umstände entschuldigt wird, die die Charakterunterschiede, die Gegensätze der Interessen und des Berufes innerhalb einer Familie hervorrufen können. Eugen wollte sich selbst betrügen, er war bereit, seiner Geliebten das Opfer seines Gewissens zu bringen. Seit zwei Tagen war sein ganzes Leben wie umgewandelt. Das Weib hatte die Unruhe hineingebracht, das Bild der Familie war verblaßt. Rastignac und Delphine hatten sich in einer Lage gefunden, in der sie beide einander die höchste Lust bereiteten. Ihre Leidenschaft, die so gut vorbereitet war, war noch durch den Genuß, der sonst die Leidenschaft tötet, gewachsen. Als Eugen Delphine besaß, erkannte er, daß er sie bisher nur begehrt hatte; erst nachdem sie sein geworden, liebte er sie wirklich: Vielleicht ist die Liebe überhaupt nur Dankbarkeit für die Lust. Mochte diese Frau gemein oder erhaben sein, er betete sie an für alle Freuden, die er ihr als Morgengabe mitgebracht, und für alle Freuden, die sie ihm gespendet hatte. Delphine dagegen liebte Rastignac wie Tantalus den Engel geliebt haben würde, der seinen Hunger und den Durst seiner ausgetrockneten Kehle gestillt hätte.
»Nun, wie geht es meinem Vater?« fragte Madame de Nücingen, als er in Ballkleidung zurückkehrte.
»Sehr schlecht«, erwiderte er. »Wenn Sie mir einen Beweis Ihrer Liebe geben wollen, so fahren wir hin, um zu sehen, wie es steht.«
»Also gut, ja«, sagte sie, »aber nach dem Ball. Mein guter Eugen, sei lieb, predige mir keine Moral und komm!«
Sie brachen auf. Eugen war während des größten Teiles der Fahrt schweigsam.