Er ist irre, dachte Eugen.
»Aber ruhen Sie sich doch aus, Sie dürfen nicht sprechen . . .«
Als Bianchon zurückkam, begab sich Eugen zum Essen hinunter. Während der Nacht wachten beide abwechselnd bei dem Kranken, der eine studierte dabei in seinen medizinischen Büchern, der andere schrieb an Mutter und Schwestern. Am folgenden Tage waren die Symptome nach Bianchons Ansicht günstiger; aber es war eine dauernde Fürsorge für den Kranken erforderlich, zu der allein die beiden Studenten fähig waren. Ihre nähere Beschreibung würde zu sehr gegen die gewohnten Ausdrucksformen unserer schamhaften Gegenwart verstoßen. Außer den Blutegeln, die dem ausgemergelten Körper des Alten angesetzt wurden, wären Pflaster, Fußbäder und sonstige ärztliche Maßnahmen zu erwähnen, zu denen die ganze Kraft und Aufopferung der beiden jungen Leute vonnöten war. Madame de Restaud kam nicht selbst, sie ließ die 1000 Francs durch einen Dienstmann abholen.
»Ich dachte, sie wäre selbst gekommen. Aber es ist nicht schlimm, ich hätte sie sonst beunruhigt«, sagte der Vater, der über diesen Umstand glücklich zu sein schien.
Um sieben Uhr abends brachte Therese einen Brief Delphines.
»Was machen Sie nur, mein Freund? Kaum, daß ich mich von Ihnen geliebt weiß, werde ich schon vernachlässigt? Sie haben mir bei unseren Bekenntnissen von Herz zu Herzen eine so schöne Seele gezeigt, daß Sie nur zu denen gehören können, die immer treu bleiben, die wissen, wie vieler Nuancen die Gefühle fähig sind. Sagten Sie doch selbst, als wir das Gebet aus ›Moses‹ hörten: ›Für die einen ist es immer die gleiche Note, für die anderen die Unendlichkeit der Musik!‹ Denken Sie daran, daß ich Sie für heute abend erwarte, um mit Ihnen zum Ball der Madame de Beauséant zu gehen. Der Heiratskontrakt des Herrn d'Ajuda ist heute morgen am Hof unterzeichnet worden, die arme Vicomtesse hat es erst um 2 Uhr erfahren. Ganz Paris wird zu ihr strömen, wie das Volk den Grèveplatz überflutet, wenn eine Hinrichtung stattfindet. Ist es nicht furchtbar, daß man sehen will, ob diese Frau ihren Schmerz verbergen kann, ob sie gut zu sterben wissen wird? Ich würde gewiß nicht hingehen, mein Freund, wenn ich schon einmal bei ihr gewesen wäre; aber sie wird später sicher nicht mehr empfangen, und alle Anstrengungen, die ich gemacht habe, wären überflüssig gewesen. Meine Lage ist daher von der der anderen Eingeladenen sehr verschieden. Aber ich gehe auch um Ihretwillen hin. Ich erwarte Sie. Wenn Sie in zwei Stunden nicht bei mir sind, weiß ich nicht, ob ich Ihnen diesen Treubruch verzeihen würde.«
Rastignac griff zur Feder und beantwortete den Brief folgendermaßen: