»Seien Sie unbesorgt«, sagte sie auf die ersten Worte Eugens, »mein Vater ist stark. Nur haben wir ihm heute morgen eine kleine Erschütterung beigebracht. Unsere Vermögen stehen auf dem Spiele, können Sie sich die ganze Größe dieses Unglücks ausdenken? Ich würde schon nicht mehr leben, wenn Ihre Liebe mich nicht gegen Dinge unempfindlich machte, die mir früher Todesqualen bereitet hätten. Für mich gibt es heute nur eine Furcht, nur ein Unglück: die Liebe zu verlieren, die mir diese Lebensfreude gegeben hat. Außer diesem Gefühl ist mir alles gleichgültig, ich liebe sonst nichts mehr auf der Welt. Sie sind alles für mich! Wenn ich den Reichtum brauche, um glücklich zu sein, so nur deshalb, weil ich Ihnen so besser gefalle. Zu meiner Schande muß ich gestehen: Ich bin eine bessere Geliebte als Tochter. Weshalb? Ich weiß es nicht. All mein Leben sind Sie. Mein Vater hat mir ein Herz geschenkt, aber Sie haben es lebendig gemacht. Die ganze Welt mag mich tadeln. Was tut's? Wenn nur Sie mich von einem Verbrechen freisprechen, zu dem mich ein unwiderstehliches Gefühl treibt! Glauben Sie, ich sei hartherzig gegen meinen Vater? Oh, nein. Wie sollte man so einen guten Vater, wie den unsrigen, nicht lieben? Konnte ich es verhindern, daß er schließlich die natürlichen Folgen unserer beklagenswerten Ehen miterleben mußte? Weshalb hat er sie zugelassen? War es nicht seine Sache, für uns zu überlegen? Heute weiß ich, er leidet ebenso darunter wie wir, aber was können wir dagegen tun? Ihn trösten? Wir können es nicht. Unsere Resignation würde ihm mehr Schmerz bereiten als unsere Klagen und Vorwürfe. Es gibt Lagen im menschlichen Leben, wo das eine so bitter ist wie das andere.«
Eugen blieb stumm. Dieser naive Ausdruck eines wahren Gefühls machte ihn ergriffen. Die Pariserinnen sind gewiß oft falsch, trunken vor Eitelkeit, selbstsüchtig, kokett und kalt. Aber wenn sie wirklich lieben, so opfern sie ihrer Leidenschaft mehr Gefühle als andere Frauen. Sie werden erhaben und wachsen über alle ihre Charakterschwächen hinaus. Eugen war erstaunt über das tiefe und klare Urteil, das einer fühlenden Frau möglich ist, wenn eine große Leidenschaft sie beseelt. Madame de Nücingen war das Schweigen Eugens nicht angenehm.
»Woran denken Sie denn?« fragte sie ihn.
»Ich höre noch immer, was Sie mir eben sagten. Bisher glaubte ich, Sie mehr zu lieben als Sie mich.«
»Eugen«, sagte sie, um den Gesprächsgegenstand zu wechseln, »wissen Sie nicht, was vor sich geht? Ganz Paris ist morgen auf dem Ball der Madame de Beauséant. Der König unterzeichnet morgen den Heiratsvertrag des d'Ajuda mit Fräulein von Rochefide. Die beiden Parteien sind übereingekommen, nichts verlautbaren zu lassen, und Ihre arme Cousine weiß noch nichts. Sie kann nicht umhin, morgen zu empfangen, und der Marquis wird nicht auf ihrem Ball sein. Man spricht von nichts anderem mehr als von dieser Geschichte.«
»Die Welt amüsiert sich über eine solche Infamie! Wissen Sie denn nicht, daß Madame de Beauséant daran sterben wird?«
»Nein«, sagte Delphine lächelnd, »Sie kennen Frauen dieser Art nicht. Aber ganz Paris wird zu ihr kommen, und ich werde dabei sein. Dieses Glück verdanke ich Ihnen.«
»Aber handelt es sich nicht vielleicht um eines dieser törichten Gerüchte, die dauernd in Paris in die Welt gesetzt werden?« meinte Rastignac.
»Nun, morgen werden wir die Wahrheit erfahren.«