»Meine arme Nasie«, sagte Madame de Nücingen, sich neben ihre Schwester setzend, »sprich! Wir beide lieben dich so, daß wir dir alles verzeihen. Siehst du, die Familienbande sind doch die festesten.«
Sie ließ sie Riechsalz einatmen, und die Gräfin kam wieder zu sich. »Daran sterbe ich«, sagte Vater Goriot. Er schürte sein Torffeuer. »Kommt beide näher. Mir ist so kalt. Was hast du, Nasie, sag es schnell, du tötest mich.«
»Nun also«, sagte die arme Frau, »mein Mann weiß alles. Stell dir vor, Vater, vor einiger Zeit – entsinnst du dich Maximes Wechsel? Nun, es war nicht der erste. Ich hatte bereits viele bezahlt. Gegen Anfang Januar schien mir Herr de Trailles sehr traurig zu sein. Er sagte mir nichts; aber es ist so leicht, im Herzen derer zu lesen, die man liebt, ein Nichts genügt, und dann gibt es auch Ahnungen. Und schließlich: Er war verliebter und zärtlicher als jemals, ich war immer glücklich. Armer Maxime! In Gedanken nahm er schon Abschied von mir, wie er mir sagte: er wollte sich erschießen! Schließlich habe ich ihn so lange gequält, hab' so lange gebettelt, einmal habe ich zwei Stunden lang zu seinen Füßen gelegen – bis er dann hunderttausend Francs Schulden eingestand! Oh! Papa, hunderttausend Francs! Ich wurde halb irrsinnig. Du hattest sie nicht, ich hatte alles verbraucht . . .«
»Nein«, sagte Vater Goriot, »ich hätte sie nicht auftreiben können, oder ich hätte stehlen müssen. Aber ich hätte es getan. Und ich tue es jetzt noch.«
Bei diesem trostlosen Wort, das wie das Röcheln eines Sterbenden klang und das die Agonie des zur Ohnmacht verurteilten Vatergefühls ankündete, verstummten die Schwestern. Vor diesem Schrei der Verzweiflung, der wie der in den Abgrund rollende Stein die ganze Tiefe des Gefühls offenbarte, mußte sich der kalte Egoismus beschämt zurückziehen.
»Ich habe mir das Geld verschafft, indem ich über Dinge verfügte, die mir nicht gehörten«, sagte die Gräfin in Tränen ausbrechend.
Delphine weinte vor Rührung und legte ihren Kopf auf die Schulter ihrer Schwester.
»Es ist also alles wahr!« sagte sie.
Anastasie neigte ihr Gesicht, Delphine umschlang sie und küßte sie zärtlich.
»Hier wird man dich immer lieben, ohne dich zu richten«, sagte sie.
»Meine Engel«, sagte Goriot mit schwacher Stimme, »warum muß erst das Unglück kommen, um euch zu vereinen!«