Gegen Mittag, als die Briefträger im Panthéonviertel die Post austrugen, erhielt Eugen einen Brief in elegantem Umschlag mit dem Wappen der Beauséant. Er enthielt eine Einladung für Herrn und Frau de Nücingen zu dem Ball der Vicomtesse, der schon seit einem Monat angekündigt war. Dabei lagen einige Zeilen für Eugen.
»Ich bin überzeugt, daß Sie mit Vergnügen das Amt eines Dolmetschers meiner Gefühle für Madame de Nücingen übernehmen werden. Ich sende Ihnen daher die Einladung, um die Sie mich gebeten haben, und werde entzückt sein, die Bekanntschaft der Schwester der Madame de Restaud zu machen. Bringen Sie mir also diese hübsche Frau, aber sorgen Sie dafür, daß sie nicht Ihre ganze Zuneigung in Anspruch nimmt. Es muß auch etwas für mich übrigbleiben, damit das Wohlwollen, das ich Ihnen entgegenbringe, nicht ganz unerwidert bleibt.«
Als Eugen das Billett der Vicomtesse de Beauséant noch einmal durchlas, sagte er sich: Aha, Madame de Beauséant sagt sehr deutlich, daß sie den Baron von Nücingen nicht sehen will.
Er eilte sofort zu Delphine, glücklich, ihr eine Freude bereiten zu können, die sicher nicht unbelohnt bleiben würde. Madame de Nücingen war im Bade. Rastignac wartete im Boudoir mit der verständlichen Ungeduld eines feurigen jungen Mannes, der seine Geliebte, nach der er sich ein Jahr gesehnt hat, besitzen will. Es gibt Gefühle, die ein junger Mann nur einmal erlebt. Die erste Frau, die sich dem Mann, der sie liebt, im vollen Glanze der großen Gesellschaft zeigt, wird niemals eine Rivalin haben. Die Liebe in Paris ist in nichts mit anderen Gefühlen zu vergleichen. Weder Männer noch Frauen, die in Paris lieben, sind sich über die mit Gemeinplätzen geschmückten Aushängeschilder im unklaren, mit denen jeder seine angeblich uneigennützigen Gefühle umgibt. Hier darf eine Frau nicht nur ihr Herz und ihre Sinne befriedigen, sie weiß zu gut, daß sie gegenüber den tausend Eitelkeiten, aus denen sich das Leben zusammensetzt, größere Verpflichtungen zu erfüllen hat. So muß die Liebe ihrem inneren Wesen nach prahlerisch, schamlos, verschwenderisch, scharlatanmäßig und prunksüchtig werden. Alle Frauen des Hofes Ludwigs XIV. haben Mademoiselle de la Vallière beneidet, weil sie dem großen König eine solche Leidenschaft einflößte, daß er seine Manschetten, die ihn 3000 Francs kosteten, zerriß, um dem Herzog von Vemandois, den sie ihm gebar, den Eintritt in die Welt zu erleichtern. Was kann man da von der übrigen Gesellschaft erwarten? Seid jung, reich und adlig, soviel es nur immer geht; je mehr Weihrauch ihr eurem Idol opfert, um so mehr wird es euch gewogen sein – sofern ihr überhaupt den Gegenstand eurer Liebe zum Idol macht! Die Liebe ist eine Religion; ihr Kult ist teurer als der aller anderen Religionen. Die Liebe hat es eilig, sie ist wie ein Gassenjunge, dessen Weg durch Zerstörung gekennzeichnet wird. Den Luxus des Gefühls wird man hier vergebens suchen, er ist die Poesie der Dachstuben. Aber was wäre die Liebe in Paris ohne äußeren Glanz? Wenn es Ausnahmen von diesen drako
nischen Vorschriften des Pariser Gesetzbuches gibt, so findet man sie bei den Einsamen, bei den Seelen, die sich noch nicht den Befehlen der Gesellschaft unterworfen haben, die an klaren und frischen Quellen wohnen, die glücklich in ihren grünen Schatten die Stimme des Unendlichen hören: überall ringsum wie in ihrem Inneren. Rastignac jedoch wollte, wie die meisten jungen Leute, die zu früh an gesellschaftlichem Glanz Gefallen gefunden haben, gleich in voller Rüstung den Kampfplatz betreten. Er kannte das Fieber der Schlacht, und er fühlte vielleicht die Kraft zu siegen, aber er kannte nicht die Mittel und nicht das Ziel seines Ehrgeizes. In Ermangelung einer heiligen, reinen Liebe, die das Leben ausfüllt, kann dieser Hunger nach Macht zu etwas Schönem führen. Man braucht ihn nur seines persönlichen Charakters zu entkleiden und ihm die Größe des Vaterlandes zum Ziel zu geben. Aber der Student war noch nicht an dem Punkt angelangt, wo man den Verlauf des eigenen Lebens überblicken und beurteilen kann. Er hatte noch nicht einmal den Reiz der frischen und lieblichen Gedanken abgeschüttelt, die mit ihrem Grün das Leben der auf dem Lande aufgewachsenen Kinder umgeben. Er hatte immer geschwankt, den Pariser Rubikon zu überschreiten. Trotz seines glühenden Dranges hatte er stets die Vorstellung von dem glücklichen Leben bewahrt, das ein wahrer Edelmann auf seinem Schlosse führt. Aber seine letzten Skrupel waren am vergangenen Abend geschwunden, als er sich in seinem Appartement sah. Im Genuß der materiellen Vorteile des Reichtums, wie er schon seit langem die ideellen Vorteile seiner Geburt genoß, hatte er den Landedelmann ausgezogen und sich behaglich in einer Situation etabliert, von der aus er in eine schöne Zukunft blickte.
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