»Kommen Sie, sich alles anzuschauen«, sagte Madame de Nücingen, die ihn bei der Hand nahm und ihn in das Schlafzimmer führte, das, wenn auch in kleinerem Ausmaß, in Tapeten und Möbeln, ja sogar in den Details, dem Delphines glich.
»Hier fehlt ein Bett«, sagte Rastignac.
»Ja«, sagte sie errötend und drückte ihm die Hand.
Eugen sah sie an und begriff trotz seiner Jugend, wieviel wahre Scham im Herzen einer liebenden Frau lebt.
»Sie sind eines jener Wesen, die man ewig anbeten muß«, sagte er ihr ins Ohr. »Ja, ich wage es zu sagen, da wir uns so gut verstehen: je tiefer und wahrer eine Liebe ist, um so mehr muß man sie mit dem Schleier des Mysteriums bedecken. Verraten wir niemandem unser Geheimnis.«
»Ich zähle wohl nicht mit«, sagte Vater Goriot murrend.
»Sie wissen doch, daß Sie zu uns gehören.«
»Ah, das wollte ich nur hören. Sie dürfen auf mich keine Rücksicht nehmen. Ich werde gehen und kommen wie ein guter Geist, der überall ist, den man um sich weiß, ohne ihn zu sehen. Also, meine kleine Delphine, liebste Ninette, habe ich nicht recht gehabt, als ich dir sagte: Es gibt eine hübsche Wohnung in der Rue d'Artois, die frei ist, wir wollen sie für ihn möblieren? Du wolltest nicht. Ich bin der Vater deiner Freude, wie ich dein leiblicher Vater bin. Väter müssen immer geben, wenn sie glücklich sein wollen. Immer geben, dadurch ist man erst Vater.«
»Wieso?« fragte Eugen.
»Ja, sie wollte nicht, sie hatte Angst vor dem Geschwätz der Leute. Als wenn die Welt ein Glück aufwiegen könnte! Wo doch alle Frauen davon träumen, es so zu haben wie sie . . .«
Er sprach ohne Zuhörer. Madame de Nücingen hatte Eugen in das Studierzimmer geführt. Man hätte, wenn auch nur leise, den Kuß hören können, den sie ihm gab. Dies Zimmer war ebenso elegant und vollständig eingerichtet wie die anderen Räume.
»Nun, hat man Ihre Wünsche erraten?« sagte sie, als sie in den Salon zurückkehrten, um sich zu Tisch zu setzen.