»Wissen Sie nicht, was hier vorgeht?« erwiderte Eugen. »Vautrin war ein Sträfling, er ist eben verhaftet worden, und der junge Taillefer ist gestorben.«
»Nun, was geht das uns an?« meinte Vater Goriot. »Ich diniere mit meiner Tochter, bei Ihnen, verstehen Sie? Sie erwartet Sie, kommen Sie mit!«
Er zog Rastignac so heftig am Arm, daß er ihn geradezu zum Gehen zwang. Er schien ihn zu entführen wie eine Geliebte.
»Zu Tisch!« rief der Maler. Jeder nahm seinen Stuhl und ließ sich nieder.
»Das hat noch gefehlt«, sagte die dicke Sylvia, »heute geht auch rein alles verkehrt. Mein Hammelragout ist angebrannt. Na, ihr müßt es eben so essen, da ist nichts zu machen.«
Madame Vauquer hatte den Mut verloren. Sie brachte kein Wort über die Lippen, als sie nur zehn Personen um den Tisch versammelt sah, an dem früher stets achtzehn Platz nahmen. Alle versuchten sie zu trösten und aufzuheitern. Zuerst unterhielt man sich von Vautrin und den Ereignissen des Tages, aber allmählich kam man im Laufe der Unterhaltung auf Duelle, das Bagno, die Justiz, die Gesetze und ihre Reform und auf Gefängnisse zu sprechen. Bald war man tausend Meilen weit von Vautrin, von Victorine und ihrem Bruder. Obwohl sie nur zehn waren, schrien sie wie zwanzig und schienen zahlreicher als gewöhnlich zu sein. Das war der ganze Unterschied zu dem Diner am Tage vorher. Die gewöhnliche Sorglosigkeit dieser egoistischen Gesellschaft, die morgen in den Pariser Tagesereignissen eine neue Beute finden sollte, gewann die Oberhand, und Madame Vauquer selbst ließ sich durch die Hoffnung beruhigen, die aus der Stimme der dicken Sylvia sprach.
Für Eugen war dieser Tag bis in den Abend hinein eine Kette phantastischer Vorgänge. Trotz seines festen Charakters und seines guten Kopfes gelang es ihm nicht, seine Ideen zu ordnen, als er im Fiaker neben Vater Goriot saß. Die Reden des Alten, die von einer ganz ungewöhnlichen Freude zeugten, klangen nach all den Erregungen nur noch wie Worte an sein Ohr, die man im Traum hört.
»Heute morgen ist alles fertig geworden. Wir drei essen zusammen. Zusammen, verstehen Sie? Vier Jahre sind es her, daß ich nicht mehr mit Delphine, meiner kleinen Delphine, diniert habe. Den ganzen Abend werde ich sie für mich haben. Seit heute morgen sind wir in Ihrer Wohnung. Ich habe gearbeitet wie ein Handwerker, in Hemdsärmeln, um die Möbel stellen zu helfen. Ah! Ah! Sie wissen gar nicht, wie reizend sie bei Tisch ist. Sie wird sich mit mir beschäftigen: ›Ach, Papa, iß doch hiervon, das ist gut.‹ Und dann kann ich gar nicht essen. Oh! Es ist lange her, daß ich so glücklich mit ihr war.«