»Meiner Treu«, erwiderte der Alte scheinbar sorglos, »was würde es mir nützen, wenn ich besser wohnte? Ich kann Ihnen das kaum recht erklären, ich kann nicht zwei Worte richtig zusammenbringen. Hier sitzt bei mir alles«, sagte er, sich aufs Herz schlagend. »Mein Leben besteht für mich in meinen beiden Töchtern. Wenn sie sich amüsieren, wenn sie glücklich sind und gut angezogen, was macht es dann aus, was ich anziehe und wo ich mich zur Ruhe lege? Mir ist nicht kalt, wenn es ihnen warm ist, und wenn sie lachen, wie könnte ich mich da grämen? Ich kenne keinen anderen Kummer als den ihren. Wenn Sie einmal Vater sind, wenn Sie sich beim Geplapper Ihrer Kinder sagen: ›Das ist mein Fleisch und Blut!‹, wenn Sie fühlen, wie diese kleinen Wesen mit jedem Tropfen Ihres Blutes verbunden sind, dessen besserer Teil sie sind, so werden Sie sich mit ihnen verwachsen fühlen. Sie glauben, daß Sie selbst es sind, der sich bei ihren Schritten bewegt. Überall höre ich ihre Stimmen. Wenn ihr Blick traurig ist, gefriert mir das Blut. Eines Tages werden Sie wissen, daß ihr Glück einen glücklicher macht als das eigene. Ich kann Ihnen das nicht erklären, es ist eine innere Bewegung, die wohltut. Schließlich: Ich lebe dreimal. Soll ich Ihnen etwas Seltsames sagen? Nun, als ich Vater ward, habe ich Gott begriffen. Er ist überall, weil die Schöpfung aus ihm hervorgegangen ist. Sehen Sie, so ähnlich ist auch mein Verhältnis zu meinen Töchtern. Nur liebe ich meine Töchter mehr, als Gott die Welt liebt, denn die Welt ist nicht so schön wie Gott. Und meine Töchter sind schöner als ich. Meine Seele ist so mit ihnen verbunden, daß ich die bestimmte Ahnung hatte, Sie würden sie heute abend sehen. Mein Gott, wenn ein Mann meine kleine Delphine so glücklich machen würde, wie es eine Frau ist, die wirklich geliebt wird – ich würde ihm die Stiefel putzen, ich würde alles für ihn tun.
Ich habe durch die Kammerzofe erfahren, daß dieser kleine de Marsey ein übler Bursche ist. Ich habe manchmal Lust, ihm den Hals umzudrehen. Solch ein Juwel von Frau nicht zu lieben, eine Frau mit einer Stimme wie eine Nachtigall, gewachsen wie ein Modell! Wo hatte sie nur ihre Augen, als sie diesen Klotz von Elsässer heiratete? Sie müßten beide hübsche nette Männer haben. Aber sie haben ja nach ihrer eigenen Laune gewählt.«
Vater Goriot war erhaben anzusehen. Eugen hatte es noch niemals erlebt, daß er vom Feuer seiner Vaterleidenschaft erglühte. Es ist etwas Wunderbares um die Macht der Gefühlswirkung. Wie roh auch ein Wesen sein mag, sobald es von einer starken und wahren Empfindung beseelt wird, geht von ihm ein eigenartiges Fluidum aus, das seinen ganzen Ausdruck ändert, die Gesten belebt und der Stimme Klang verleiht. Oft gelangt das stumpfste Geschöpf unter dem Einfluß der Leidenschaft zum höchsten Grad geistigen Einflusses und wirklicher Beredsamkeit. Es scheint sich in einer leuchtenden Sphäre zu bewegen. So lag jetzt in der Stimme und Geste des Alten die Überzeugungskraft, die den großen Schauspieler zeichnet. Sind unsere schönen Empfindungen nicht die Dichtungen des Willens?
»Nun, dann werden Sie sicher nicht böse sein, wenn Sie hören«, sagte Eugen, »daß sie ohne Zweifel mit diesem de Marsey brechen wird. Dieses nette Früchtchen hat sie verlassen, um sich an die Prinzessin Gallathionne zu hängen. Was mich betrifft, so habe ich mich heute abend in Madame Delphine verliebt.«
»Ah!« machte Vater Goriot.