»Wenn Madame de Nücingen sich für mich interessiert, so werde ich sie lehren, ihren Gatten zu lenken. Er macht glänzende Geschäfte, und er kann mir vielleicht helfen, mit einem Schlage ein Vermögen zu erwerben.«
Er sagte sich dies nicht mit klaren Worten; er war noch nicht Politiker genug, um eine Situation abzuschätzen und ziffernmäßig zu werten. Diese Ideen schwebten noch an seinem Horizont wie leichte Wölkchen. Aber obwohl seine Anschauungen noch nicht so kraß waren wie die Vautrins, sie hätten doch, wenn sie dem Schmelztiegel des Gewissens ausgesetzt worden wären, keine reine Mischung ergeben. Durch eine Folge solcher geistigen Transaktionen gelangen die Menschen zu der laxen Moral, zu der sich unsere Zeit bekennt. Denn heute findet man seltener als jemals jene gradlinigen Männer, jene Menschen guten Willens, die sich niemals dem Übel beugen, denen die kleinste Abirrung vom rechten Weg als ein Verbrechen erscheint, jene glänzenden Beispiele der Menschenwürde, die uns die Meisterwerke der Literatur schildern: Alceste in Molières »Misanthrope« und neuerdings Jenny Deans und ihr Vater im Werke Walter Scotts. Vielleicht wäre die entgegengesetzte Schilderung, die der Irrwege, auf denen ein Weltmann, ein Ehrgeiziger, sein Gewissen unterdrückt und das Verbrechen streift, um unter Wahrung des Dekorums zu seinem Ziel zu gelangen, nicht weniger schön und nicht weniger dramatisch.
Als Rastignac die Schwelle der Pension erreicht hatte, war er bereits in Madame de Nücingen verliebt. Sie erschien ihm zart und zierlich wie eine Schwalbe. Der berückende sanfte Glanz ihrer Augen, das feine und seidenweiche Gewebe ihrer Haut, unter der er das Blut kreisen zu sehen glaubte, der bezaubernde Tonfall ihrer Stimme, ihre blonden Haare – alles das rief er sich ins Gedächtnis zurück, und vielleicht trug der lange Spaziergang, der sein Blut in Wallung gebracht hatte, zu dieser Verzückung noch bei. Als er oben war, klopfte er heftig an der Tür des Vaters Goriot. »Ich habe Madame Delphine gesehen, Herr Nachbar«, rief er.
»Wo?«
»In der Komischen Oper.«
»Hat sie sich gut amüsiert? . . . Kommen Sie doch herein!«
Der gute Alte, der im Hemd aufgestanden war, öffnete die Tür und kroch schnell wieder ins Bett.