»Obwohl die Freundschaft bei Ihnen ein nicht alltägliches Gefühl sein muß«, sagte Rastignac, »möchte ich doch niemals nur Ihr Freund sein.«
Diese stereotypen Anfängerredensarten erscheinen den Frauen immer reizend; ihre ganze Armseligkeit empfindet man erst, wenn man sie gedruckt sieht. Die Geste, der Akzent, der Blick eines jungen Mannes geben ihnen erst ihren unberechenbaren Wert. Madame de Nücingen fand Rastignac hinreißend. Da sie auf die so stürmischen und direkten Wendungen des Studenten, wie alle Frauen, nichts erwidern konnte, sprach sie jetzt von etwas anderem.
»Ja, meine Schwester setzt sich durch die Art, wie sie unseren armen Vater behandelt, der wirklich wie ein Gott zu uns war, sehr ins Unrecht. Erst als Herr von Nücingen mir ausdrücklich befahl, meinen Vater nur des Morgens zu empfangen, habe ich – und auch nur in diesem Punkte – nachgegeben. Aber ich war lange Zeit darüber sehr unglücklich. Ich habe manche Träne vergossen. Diese Gewaltschritte meines Gatten, die sich den ganzen Brutalitäten unserer Ehe anschlossen, zählen zu den Gründen, die mein häusliches Glück unterwühlt haben. Ich bin sicherlich in den Augen der Welt die glücklichste Frau von Paris, aber in Wirklichkeit die unglücklichste. Sie werden sicher sehr befremdet sein, daß ich so zu Ihnen spreche. Aber Sie kennen meinen Vater, und Sie können mir deshalb nicht fremd sein.«
»Noch nie können Sie jemand getroffen haben«, sagte Eugen, »der leidenschaftlicher wünschte, Ihnen zu gehören! Was suchen alle Frauen? Das Glück«, antwortete er selbst mit zu Herzen gehender Stimme. »Wenn für eine Frau das Glück darin besteht, geliebt und angebetet zu werden, einen Freund zu haben, dem sie ihre Wünsche, ihre Phantasien, ihren Kummer und ihre Freuden anvertrauen, dem sie ihre Seele ganz nackt mit allen ihren schönen Fehlern und ihren großen Eigenschaften zeigen kann, ohne zu fürchten, verraten zu werden, so glauben Sie mir, kann sich dieses stets aufopferungsvolle und glühende Herz nur bei einem jungen Menschen finden, der noch voll von Illusionen ist, der auf ein bloßes Zeichen zu sterben bereit wäre, der noch nichts von der Welt weiß und nichts von ihr wissen will, weil Sie ihm die Welt bedeuten.