Er setzte sich und blieb lange in tiefes Nachdenken versunken. Der Tugend treu bleiben, welch erhabenes Martyrium! Alle Welt glaubt an die Tugend, aber wer ist tugendhaft? Die Völker machen aus der Freiheit ihr Idol, aber wo auf der Welt gibt es ein freies Volk? Meine Jugend ist noch wie blauer wolkenloser Himmel: Wenn man groß und reich werden will, heißt das nicht lügen, sich ducken, kriechen, seine Gesinnung ändern, schmeicheln und heucheln? Muß man sich nicht zum Diener derer machen, die gelogen und gedienert haben? Bevor man ihr Genosse wird, muß man sie bedienen. Nein! Ich will anständig und ehrlich arbeiten, Tag und Nacht, ich will mein Glück nur meiner Arbeit verdanken. Es wird sehr langsam gehen, aber jeden Abend werde ich mich ohne Gewissensbisse zur Ruhe legen können. Was gibt es Schöneres, als einmal sein Leben zu betrachten und es rein wie eine weiße Lilie zu finden? Ich und das Leben, wir sind wie ein Bräutigam und seine Braut. Aber – Vautrin hat mir gezeigt, wie es nach zehn Jahren Ehe aussieht. Zum Teufel! Mein Kopf wird wirr. Ich will an nichts denken, das Herz ist doch der beste Führer!
Eugen wurde durch die Stimme der dicken Sylvia aus seiner Träumerei geweckt; sie meldete ihm den Schneider. Er konnte sich so vor ihm mit zwei Geldsäcken in der Hand präsentieren, und das kam ihm nicht ungelegen. Nachdem er seine Abendanzüge anprobiert hatte, zog er seinen neuen Straßenanzug an, der ihn vollständig verwandelte.
»Ich kann es jetzt ruhig mit Herrn de Trailles aufnehmen«, sagte er sich. »Endlich sehe ich aus wie ein Edelmann.«
»Sie haben mich gefragt, mein Herr, ob mir die Häuser bekannt seien, in denen Madame de Nücingen verkehrt?« sagte Vater Goriot, der bei Eugen eintrat.
»Jawohl.«
»Nun, sie geht nächsten Montag zum Ball des Marschall Carigliano. Wenn auch Sie an dem Ball teilnehmen, so können Sie mir sagen, ob meine Töchter sich gut amüsiert haben, wie sie angezogen waren – alles, was sich ereignet hat.«
»Wie haben Sie denn das erfahren, mein guter Vater Goriot?« sagte Eugen, der ihn am Kamin Platz nehmen ließ.
»Ihre Kammerzofe hat es mir gesagt. Ich erfahre alles, was sie machen, von Therese und Konstanza«, erwiderte er vergnügt.
Der Greis glich einem reichlich jungen Liebhaber, der noch über eine List glücklich ist, durch die er mit der Geliebten in Verbindung kommt, ohne daß sie etwas ahnt.