In diesem Augenblick erschien ein Briefträger der Messageries Royales im Speisesaal, nachdem er an dem Gittertor geklingelt hatte. Er fragte nach Herrn Eugen de Rastignac, dem er zwei Säckchen übergab und das Postbuch zum Quittieren hinhielt. Rastignac wurde von dem durchdringenden Blick, den ihm Vautrin zuwarf, wie von einem Peitschenhieb getroffen.
»Na, jetzt können Sie wenigstens Ihre Fecht- und Schießstunde bezahlen«, sagte er.
»Die Galeonen sind eingetroffen«, sagte Madame Vauquer beim Anblick der Geldsäckchen. Fräulein Michonneau allein fürchtete, ihre Blicke auf das Geld zu richten, da sie sonst ihre Begierde zu deutlich gezeigt hätte.
»Sie haben eine gute Mutter«, sagte Madame Couture, und Poiret wiederholte: »Der Herr hat eine gute Mutter.«
»Ja, ja, die Mama hat sich tüchtig zur Ader gelassen«, sagte Vautrin, »Sie können jetzt also Ihre Torheiten treiben, in die große Gesellschaft gehen, nach Mitgiften angeln und mit Gräfinnen tanzen, die Pfirsichblüten im Haar tragen. Aber glauben Sie mir, junger Mann, lernen Sie vor allem schießen!«
Vautrin machte die Gebärde des Mannes, der seinen Widersacher aufs Korn nimmt. Rastignac wollte dem Briefträger ein Trinkgeld geben, fand aber kein Geld in seiner Tasche. Vautrin wühlte darauf in der seinen herum und warf dem Briefträger ein Francstück zu.
»Sie haben bei mir Kredit«, sagte er zu dem Studenten.
Rastignac war gezwungen, sich zu bedanken, obwohl ihm der Mann seit dem Wortwechsel am Tage, als er von Madame de Beauséant zurückgekehrt war, unerträglich geworden war. Während der inzwischen vergangenen Woche hatten Eugen und Vautrin sich gegenseitig kaum beachtet. Der Student fragte sich vergeblich nach dem Warum? Ohne Zweifel bewegen sich die Gedanken im direkten Verhältnis zu der Kraft fort, mit der sie empfangen worden sind, und sie schlagen dort auf, wohin das Gehirn sie sendet, nach einem mathematischen Gesetz, das der Parabel der Artilleriegeschosse vergleichbar ist. Die Wirkungen sind verschieden. Es gibt zarte Naturen, in welche die fremden Ideen eindringen und bei denen sie Unheil anrichten, es gibt aber auch widerstandsfähigere mit eisernen Schädeln, an denen der Wille der anderen abprallt wie Kugeln von einer Mauer. Endlich gibt es auch schlaffe und schlammige Wesen, in denen die Ideen des anderen wirkungslos sterben wie die Granaten in der weichen Erde einer Festungsredoute. Rastignac gehörte zu den Naturen, die wie mit Pulver geladen sind und die beim geringsten Anprall zerspringen. Er war zu jung und zu lebendig, um dem Einfluß fremder Gedanken nicht zugänglich zu sein, dieser unbewußten Ansteckung der Gefühle, die uns durch so viele seltsame Erscheinungsformen überrascht. Seine moralische Sehkraft war ebenso entwickelt wie die seiner Luchsaugen. Jeder dieser beiden Sinne, diese mysteriöse Reichweite, dieses geschmeidige Hin und Zurück, das uns bei höher veranlagten Menschen so entzückt, bei den geschickten Kämpfern, die jede schwache Stelle ihres gepanzerten Feindes auszunutzen verstehen. Seit einem Mo
nat hatten sich übrigens bei Eugen ebensoviel Vorzüge wie Fehler entwickelt. Die Fehler hatten die Gesellschaft und die Befriedigung seiner immer wachsenden Wünsche ans Tageslicht gebracht. Unter seinen Vorzügen stach vor allem die südliche Lebendigkeit hervor, die ihn geradewegs auf Schwierigkeiten losgehen ließ und die es einem Menschen, der südlich der Loire geboren ist, unmöglich macht, lange in irgendeiner Ungewißheit zu schweben. Für die Menschen des Nordens ist dies ein Fehler, für sie gilt diese Eigenschaft, mag sie auch das Glück Murats begründet haben, doch als die Ursache seines Todes: Man muß daraus schließen, daß ein Südländer, der die Verschmitztheit des Nordens mit der Kühnheit des französischen Südens zu verbinden weiß, sich ergänzt und, wie Bernadotte, König von Schweden nicht nur wird, so
ndern es auch bleibt. Rastignac ko
nnte nicht lange unter dem Feuer der Batterien Vautrins bleiben, ohne sich zu vergewissern, ob dieser Mensch sein Freund oder Feind sei. Immer mehr schien es ihm, als ob diese seltsame Persönlichkeit in seine Leidenschaften eindringe und in seinem Herzen lese, während bei Vautrin hingegen alles so verschlossen blieb, daß man an die unergründliche Tiefe einer Sphinx denken mußte, die alles weiß, alles sieht und nichts sagt. Eugen, der seine Taschen gefüllt sah, empörte sich endlich gegen dieser Druck.
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