Jean-Joachim Goriot war vor der Revolution einfacher Arbeiter in einer Nudelfabrik gewesen, geschickt, sparsam und unternehmend genug, um den Betrieb seines Meisters zu erwerben, als dieser durch einen Zufall ein Opfer der ersten Erhebung von 1789 geworden war. Er hatte sich in der Rue de la Jussienne niedergelassen, in der Nähe der Getreidehalle. Er war klug genug gewesen, die Präsidentschaft seiner Sektion zu übernehmen. So konnte er mit Hilfe der einflußreichsten Persönlichkeiten dieser gefährlichen Zeiten sein Unternehmen schützen. Dieses umsichtige Verhalten hatte den Grund zu seinem Vermögen gelegt. Es begann sich in der Epoche der – sei es angeblichen oder wirklichen – Hungersnot zu bilden, während der die Getreidepreise in Paris eine enorme Höhe erreichten. Das Volk schlug sich vor den Türen der Bäcker, während die Klügeren in aller Ruhe Teigwaren beim Krämer kauften. In diesem Jahre häufte der Citoyen Goriot die Kapitalien an, die es ihm gestatteten, später seinen Betrieb mit der ganzen Überlegenheit eines großen Besitzers an flüssigen Geldmitteln auszudehnen. Es ging ihm so, wie es allen Menschen zu gehen pflegt, die nur über ein beschränktes Aufnahmevermögen verfügen. Seine Mittelmäßigkeit war sein Glück. Da übrigens sein Reichtum erst in einem Augenblick bekannt wurde, wo es nicht mehr gefährlich war, reich zu sein, erregte er bei niemandem Neid.
Der Getreidehandel schien seine ganze Geisteskraft absorbiert zu haben. Handelte es sich um Getreide, Mehl oder Schrot, um ihre Qualität, ihre Herkunft, Konservierung, um die Kursschwankungen, um die Möglichkeiten einer reichen oder schlechten Ernte, die Versorgung aus Sizilien oder der Ukraine, so hatte Goriot nicht seinesgleichen. Wenn man sah, wie er sein Geschäft leitete, wie er die Gesetze über die Ein- und Ausfuhr von Getreide erörterte, ihre Bedeutung erfaßte und ihre Fehler ausnutzte, so hätte man ihn für fähig halten können, Minister zu werden. Geduldig, tätig, energisch, ausdauernd und entschlossen in allem, was er tat, wachte er mit dem Auge eines Adlers, war überall der erste, sah alles voraus, wußte alles und verheimlichte alles: ein Diplomat im Planen, ein Soldat im Handeln. Aber wenn er aus diesem Kreis herausgetreten war, wenn er seinen einfachen obskuren Laden verlassen hatte, auf dessen Schwelle er während der Stunden der Muße verharrte, die Schultern an den Türpfosten gelehnt, so wurde er wieder der stumpfe und ungeschliffene Arbeiter, unfähig, einem höheren Gedanken zu folgen, gleichgültig gegen alle geistigen Freuden, der Mann, der im Theater einschläft, eine jener Pariser Figuren, die nur in der Beschränkung stark sind. Diese Menschen sind alle einander ähnlich. Fast immer findet man im Grunde ihres Herzens irgendein edles Gefühl.
Zwei Empfindungen waren es, die vom Herzen des Nudelfabrikanten Besitz ergriffen hatten, so wie der Getreidehandel seine ganze Intelligenz in Anspruch genommen hatte. Seine Frau, die Tochter eines reichen Pächters aus der Gegend von Brie, war für ihn der Gegenstand einer geradezu religiösen Bewunderung, einer Liebe ohne Grenzen. Goriot hatte in ihr eine zarte, aber doch starke Natur bewundert, sie war gefühlvoll und anmutig, der vollkommene Gegensatz zu ihm. Wenn es überhaupt so etwas wie ein angeborenes Gefühl im Herzen des Mannes gibt, ist es dann nicht der Stolz, jeden Augenblick ein schwaches Wesen zu schützen? Kommt noch die wahre Liebe hinzu, die lebhafte Dankbarkeit offener Seelen für die Quellen ihres Glücks, so kann man manche moralischen Absonderlichkeiten verstehen.