»Liebe Mutter! Sieh doch zu, ob Du nicht eine dritte Brust hast für Dein Kind! Ich bin in einer Lage, in der auch ich rasch mein Glück machen kann. Aber ich brauche 1200 Francs, ich brauche sie um jeden Preis. Sage von meiner Bitte nichts dem Vater, er würde vielleicht dagegen sein, und wenn ich das Geld nicht bekäme, so würde ich in eine Verzweiflung geraten, die mir die Pistole in die Hand drücken könnte. Ich werde Dir meine Gründe näher auseinandersetzen, sobald ich Dich sehe, denn eine schriftliche Erklärung meiner Lage würde Bände in Anspruch nehmen. Ich habe nicht gespielt, meine gute Mutter, ich habe keine Schulden, aber wenn Du mir das Leben erhalten willst, das Du mir gegeben hast, so mußt Du das Geld für mich auftreiben. Kurz und gut: Ich verkehre jetzt bei der Vicomtesse de Beauséant, die mich unter ihren Schutz genommen hat. Ich muß mich in der großen Welt sehen lassen, und ich habe nicht einmal einen Sou für neue Handschuhe. Ich will gern von Wasser und trockenem Brot leben, ich will hungern, wenn es not tut. Aber ich kann nicht auf Werkzeuge verzichten, mit denen die Weinberge hierzulande bearbeitet werden. Es handelt sich für mich darum, entweder meinen Weg zu machen oder im Dreck zu bleiben. Ich weiß, welche Hoffnungen Ihr auf mich setzt, und ich will sie bald verwirklichen. Meine liebe Mutter, verkaufe einige von Deinen alten Schmuckstücken, ich werde sie Dir bald ersetzen. Ich kenne die Lage unserer Familie gut genug, um dieses Opfer richtig einzuschätzen. Du darfst glauben, daß ich Dich nicht bitte, es nutzlos zu wagen. Sonst wäre ich ja ein Ungeheuer. Sieh in meiner Bitte nur den Schrei einer zwingenden Notwendigkeit. Unsere Zukunft hängt einzig und allein nur von diesen Mitteln ab, mit denen ich meine Kampagne eröffnen will. Denn dieses Leben in Paris ist ein fortdauernder Kampf. Wenn es zur Vervollständigung der Summe kein anderes Mittel gibt, als die Spitzen der Tante zu verkaufen, so sage ihr, daß ich ihr viel schönere dafür schicken werde,« usw. usw.
Dann schrieb er an seine Schwestern, an jede einzeln, und bat sie um ihre Ersparnisse. Um sie ihnen zu entreißen, ohne daß sie in der Familie von diesem Opfer sprachen, versicherte er sich ihrer Diskretion durch einen Appell an ihr Ehrgefühl, mit dem man ja bei jungen Herzen stets so starken Widerhall findet.
Als er die Briefe geschrieben hatte, spürte er doch eine starke innere Erschütterung, er bebte und zitterte. Der junge Welteroberer kannte die ganze reine Vornehmheit dieser in der Einsamkeit begrabenen Seelen; er wußte, welchen Schmerz, aber auch welche Freude er seinen Schwestern bereitete, wie gern sie heimlich bei ihren Spaziergängen im Weinberg von dem geliebten Bruder sprechen würden. Sein Gewissen wurde hell; er sah sie vor sich, wie sie heimlich ihren kleinen Schatz zählten, wie sie all ihre Mädchenschlauheit zusammennahmen, um ihm inkognito das Geld zu schicken, wie sie den ersten kleinen Betrug begingen, um eine edle Tat zu vollführen.
Das Herz einer Schwester ist ein Diamant an Reinheit, ein Abgrund an Liebe! sagte er sich.
Er schämte sich jetzt der Briefe. Wie heiß würden ihre Wünsche für ihn sein, wie rein die Bitte ihrer Herzen zum Himmel! Mit welcher Freude würden sie sich nicht für ihn opfern! Wie groß würde der Schmerz der Mutter sein, wenn sie nicht die ganze Summe senden könnte! Diese schönen Gefühle, diese großen Opfer sollten also die Stufen der Leiter sein, die ihn zu Delphine von Nücingen führten. Tränen traten in seine Augen – es sollte der letzte Weihrauch auf dem heiligen Altar der Familie sein. Er ging voller Verzweiflung auf und ab. Vater Goriot, der ihn durch die halb offenstehende Tür sah, trat ein und fragte:
»Fehlt Ihnen etwas?«