»Vautrin hat recht, Reichtum ist Tugend«, sagte er sich.
In der Rue Neuve-St-Geneviève angelangt, stieg er schnell auf sein Zimmer, kam herab und gab dem Kutscher zehn Francs. Dann betrat er den übelriechenden Speisesaal, wo er die achtzehn Tischgenossen wie Tiere am Trog bei der Stillung ihres Hungers antraf. Diese ganze Misere, dazu der Anblick des Saales, waren ihm furchtbar. Der Übergang war zu plötzlich, der Kontrast zu schroff, um nicht in ihm einen maßlosen Ehrgeiz aufkommen zu lassen. Auf der einen Seite die frischen bezaubernden Bilder des eleganten Gesellschaftslebens, junge, lebhafte Menschen, umgeben von Wundern der Kunst und des Luxus, auf der anderen ein düsteres, schmutziges Gemälde, Gesichter, auf denen die Leidenschaft nur die Merkmale stumpfer Befriedigung hinterlassen hatte. Die Lehren, die der Zorn einer verlassenen Frau Madame de Beauséant entrissen hatte, ihre lockenden Angebote, kamen ihm ins Gedächtnis, und das Elend, das er hier sah, war der Kommentar dazu.
Rastignac beschloß, zwei parallele Sappen vorzutreiben, um zum Reichtum zu gelangen; er wollte sich auf das Wissen und auf die Liebe stürzen, ein gelehrter Jurist und ein Gesellschaftsmensch werden. Er war noch ein rechtes Kind! Die beiden Linien verlaufen ins Unendliche, ohne sich jemals zu berühren.
»Sie schauen ja so düster drein, Herr Marquis«, sagte Vautrin zu ihm. Er warf ihm einen jener Blicke zu, mit denen dieser Mensch in die verborgensten Geheimnisse des Herzens einzudringen schien.
»Ich bin nicht dazu aufgelegt, die Witze von Leuten zu dulden, die mich ›Herr Marquis‹ anreden«, antwortete er. »Wenn man hier wirklich Marquis sein will, braucht man mindestens 100 000 Livres Rente, und wenn man im Haus Vauquer lebt, ist man nicht gerade Fortunas Liebling.«
Vautrin warf Rastignac einen Blick zu, der zugleich verächtlich und väterlich wohlwollend war, als wenn er sagen wollte: Mein Bürschchen, im Handumdrehen werde ich mit dir fertig! Dann antwortete er:
»Sie sind wohl nur schlechter Laune, weil Sie bei der schönen Gräfin de Restaud keinen Erfolg gehabt haben.«
»Sie hat mir ihre Türe verschlossen, weil ich ihr gesagt habe, daß ihr Vater mit uns an einem Tisch ißt!« rief Rastignac.
Alle Anwesenden sahen einander an. Vater Goriot schlug die Augen nieder und wandte sich ab, um sie zu trocknen.
»Sie haben mir Tabak in die Augen geworfen«, sagte er zu seinem Nachbarn.
»Wer in Zukunft noch einmal den Vater Goriot belästigt, hat es mit mir zu tun«, rief Eugen und sah dabei den Nachbarn des ehemaligen Nudelfabrikanten scharf an. »Er ist mehr wert als wir alle. Die Damen sind natürlich ausgeschlossen«, fügte er hinzu, sich zu Fräulein Taillefer wendend.