»Wärmen Sie sich doch auch ein wenig auf, Victorine«, sagte Madame Vauquer.
»Es ist sehr schön, mein Fräulein, daß Sie zum lieben Gott beten, er möge das Herz Ihres Vaters erweichen«, meinte Vautrin, indem er der Waise einen Stuhl hinschob. »Aber das genügt nicht, Sie brauchen einen Freund, der diesem Schweinehund einmal den Standpunkt klarmacht, diesem Barbaren, der 3 Millionen haben soll und der Ihnen keine Mitgift gibt. Auch ein hübsches Mädchen braucht heutzutage eine Mitgift!«
»Armes Kind!« sagte Madame Vauquer. »Warten Sie nur, mein Engel, dieses Ungeheuer von Vater wird sich noch selbst ins Unglück stürzen.«
Bei diesen Worten füllten sich Victorines Augen mit Tränen, und auf ein Zeichen von Frau Couture verstummte die Witwe. »Wenn wir ihn nur mal sehen könnten, wenn ich ihn nur sprechen könnte, um ihm den letzten Brief seiner verstorbenen Frau zu zeigen«, seufzte die Witwe des Zahlmeisters. »Ich habe niemals gewagt, den Brief zur Post zu geben: Er kennt meine Handschrift . . .«
»Oh, ihr unschuldigen, unglücklichen und verfolgten Frauen!« zitierte Vautrin, »so steht es also um euch? Nur noch einige Tage, dann nehme ich die Sache in die Hand, und alles geht gut.«
»Ach!« rief Victorine, indem sie Vautrin einen innigen, tränenfeuchten Blick zuwarf, der ihn jedoch wenig zu berühren schien. »Wenn Sie ein Mittel wissen, um zu meinem Vater zu gelangen, so sagen Sie ihm doch, daß seine Liebe und die Ehre meiner Mutter für mich die kostbarsten Schätze der Welt sind. Wenn Sie seine Härte ein wenig mildern könnten, so will ich zu Gott für Sie beten. Seien Sie von meiner Dankbarkeit überzeugt!«
»Überall bin ich zu Hause . . .«, sang Vautrin ironisch. –
In diesem Moment kamen Goriot, Mademoiselle Michonneau und Poiret herunter, vielleicht durch den Geruch der Soße angelockt, mit der Sylvia die Reste des Hammels anmachte. In dem Augenblick, als die sieben Tischgenossen sich unter gegenseitigen Begrüßungen niederließen, schlug es 10 Uhr. Von der Straße her hörte man die Schritte des Studenten.
»Na, Monsieur Eugen«, sagte Sylvia, »heute frühstücken Sie mal mit der ganzen Gesellschaft zusammen.«
Der Student begrüßte die Pensionäre und setzte sich neben Vater Goriot.
»Mir ist ein seltsames Abenteuer zugestoßen«, sagte er, indem er sich eine gewaltige Portion Hammelfleisch auflegte und sich ein Stück Brot abschnitt, das Madame Vauquer wie gewöhnlich mit den Augen abwog. –
»Ein Abenteuer?« fragte Poiret.