Er muß so stark sein wie König August von Sachsen, dachte Eugen, als der Barren ungefähr fertig war.
Vater Goriot betrachtete sein Werk mit traurigen Augen. Tränen liefen ihm über die Wangen, er blies die Lampe aus, bei deren Schein er gearbeitet hatte, und Eugen hörte, wie er sich seufzend zu Bett legte.
»Er ist sicher verrückt«, sagte der Student. Da hörte er wie Vater Goriot laut aufseufzte: »Armes Kind!«
Nach diesem Ausruf hielt es Rastignac für klüger, Schweigen über den Vorfall zu bewahren und seinen Nachbarn nicht voreilig zu verdammen. Er wollte gerade in sein Zimmer zurückgehen, als er plötzlich ein unerklärliches Geräusch vernahm. Es hörte sich an, als ob Männer auf Filzsohlen die Treppe heraufkämen. Eugen horchte und vernahm auch bald die Atemzüge zweier Personen. Ohne daß er das Knarren einer Tür oder den Schritt eines Menschen gehört hätte, sah er plötzlich ein schwaches Licht in der zweiten Etage bei Herrn Vautrin.
Für eine Familienpension sind das ja ganz nette Geheimnisse hier, sagte er sich.
Er stieg einige Stufen herab und horchte. Bald vernahm er das Klimpern von Goldmünzen. Darauf erlosch das Licht. Abermals hörte er dann die beiden Atemzüge, ohne daß er das Öffnen einer Tür wahrgenommen hätte. Die beiden Männer stiegen die Treppe herab, und das Geräusch wurde schwächer.
»Wer ist da?« rief Madame Vauquer, die ihr Fenster öffnete.
»Ich bin's, Madame Vauquer, ich komme eben nach Hause«, sagte Vautrin mit seiner tiefen Stimme.
Seltsam! Christoph hatte doch die Tür zugeriegelt, sagte sich Eugen, als er in sein Zimmer zurückkehrte. Man muß in Paris gut aufpassen, um zu wissen, was um einen herum vor sich geht.
Durch diese kleinen Ereignisse in seinen Träumen von Liebe und Ehrgeiz gestört, machte er sich wieder an die Arbeit. Aber schließlich wurde er durch die Gedanken an Vater Goriot und noch mehr durch die Gestalt der Madame de Restaud abgelenkt, die ihm wie die Botin eines glänzenden Geschickes erschien. Er ging zu Bett und schlief wie ein Murmeltier. Von zehn Nächten, die junge Menschen für die Arbeit bestimmen, schlafen sie sieben. Man muß älter sein als zwanzig Jahre, um wachen zu können.
Am folgenden Morgen herrschte in Paris einer jener dicken Nebel, die die Stadt so einhüllen und verschleiern, daß selbst die pünktlichsten Leute sich in der Zeit irren. Die Geschäftsleute verpaßten ihre Verabredungen, jeder glaubte, es sei erst acht Uhr, als es Mittag schlug. Es war schon neuneinhalb, und Madame Vauquer hatte sich noch nicht aus ihrem Bett gerührt. Christoph und die dicke Sylvia, die sich gleichfalls verspätet hatten, tranken in Ruhe ihren Kaffee und verzehrten den Rahm der Milch, die für die Pensionäre bestimmt war. Sylvia ließ die Milch dann recht lange kochen, damit Madame Vauquer von diesem unrechtmäßig erhobenen Zehnten nichts merke.
»Sylvia«, sagte Christoph bei der ersten Schnitte, »Vautrin, der doch sonst ein ordentlicher Mann ist, hat wieder zwei Männer heute nacht bei sich eingelassen. Wenn Madame sich deshalb beunruhigt, darfst du nichts sagen.«