»Madame«, sagte sie bei der Rückkehr, »Goriot muß verflucht reich sein, wenn er seine Geliebte auf solchem Fuß leben läßt. Stellen Sie sich vor, daß an der Ecke der Rue Estrapade eine herrliche Kutsche stand, in die ›sie‹ eingestiegen ist.«
Während des Mittagessens stand Madame Vauquer auf und zog den Vorhang zu, um Goriot vor einem Sonnenstrahl zu schützen, der ihm in die Augen fiel.
»Sie werden von schönen Frauen geliebt, Herr Goriot, die Sonne sucht Sie!« sagte sie, um auf den Besuch anzuspielen. »Zum Teufel! Sie haben einen guten Geschmack, die war wirklich hübsch.«
»Das war meine Tochter«, erwiderte er mit einer Art von Stolz; die Pensionäre sahen in seiner Antwort nur die Geckenhaftigkeit eines Greises, der das äußere Dekorum wahren will.
Einen Monat nach diesem Besuch erschien wieder eine Dame bei Goriot. Seine Tochter, die das erstemal in Morgentoilette gekommen war, kam jetzt nach dem Mittagessen und zum Ausgehen angezogen. Die Pensionäre, die im Salon plauderten, bekamen eine hübsche blonde Dame von zarter Figur zu sehen, viel zu vornehm, um die Tochter des alten Goriot zu sein.
»Nr. 2«, sagte die dicke Sylvia, die die Besucherin nicht wiedererkannte.
Einige Tage später verlangte ein anderes junges Mädchen, groß und hübsch, eine Brünette mit schwarzen Haaren und lebhaftem Blick, Monsieur Goriot zu sprechen.
»Nr. 3«, sagte Sylvia.
Diese zweite junge Dame, die gleichfalls zuerst am Morgen gekommen war, um ihren Vater zu besuchen, kam einige Tage später am Abend wieder, mit Equipage und in Balltoilette.
»Das ist Nr. 4«, sagten Madame Vauquer und die dicke Sylvia, die in dieser großen Dame das einfach gekleidete junge Mädchen nicht wiedererkannten, das den Besuch am Morgen gemacht hatte.
Goriot zahlte damals immer noch 1200 Francs Pension. Madame Vauquer hielt es für ganz natürlich, daß ein reicher Mann vier bis fünf Geliebte habe, und fand es sogar sehr schlau, sie für seine Töchter auszugeben. Sie erhob auch keine Einwände dagegen, daß diese Besuche im Hause Vauquer stattfanden. Da ihr aber nun die Besuche den Gleichmut erklärlich machten, den Goriot ihr gegenüber an den Tag legte, so erlaubte sie sich, ihn zu Beginn des zweiten Jahres einen »alten Kater« zu nennen. Endlich, als ihr Pensionär auf 900 Francs herabgestiegen war, fragte sie ihn in barschem Ton, was er aus ihrem anständigen Haus zu machen gedenke, als sie wieder eine der Damen absteigen sah. Vater Goriot erwiderte, diese Dame sei seine älteste Tochter.
»Sie haben wohl 36 von der Sorte«, erwiderte Madame Vauquer schnippisch.
»Ich habe nur zwei«, war die Antwort des Pensionärs, die mit der ganzen Sanftmut eines ruinierten Mannes erteilt wurde, den das Unglück bescheiden macht.