»Meine Liebste, er ist so gesund wie ein Fisch im Wasser«, sagte die Witwe, »ein Mann, der sich vollkommen erhalten hat und der einer Frau noch manch vergnügtes Stündchen bereiten kann.«
Die Gräfin machte in vornehmer Weise Madame Vauquer einige Bemerkungen über ihre Kleidung, die zu ihren Plänen nicht recht passe.
»Sie müssen sich kriegsmäßig ausrüsten«, meinte sie.
Nach vielem Hin- und Herreden gingen die beiden Witwen schließlich zum Palais Royal, wo sie in den Galerien einen Federhut und eine Haube kauften. Die Gräfin schleppte ihre Freundin weiter zum Kaufhaus »La Petite Jeannette«, wo man ein Kleid und einen Schal erstand. Als diese Munition nunmehr verfeuert und die Witwe kampfbereit war, glich sie vollkommen der Abbildung auf dem Schild des Wirtshauses »Boeuf à la mode«. Trotzdem fand sie sich so zu ihrem Vorteil verändert, daß sie sich der Gräfin verpflichtet glaubte, und obwohl sie nicht vom Stamme Gib war, bat sie sie, einen Hut für 20 Francs anzunehmen. Sie rechnete darauf, daß die Gräfin Herrn Goriot sondieren und sie bei ihm herausstreichen würde. Madame de l'Ambermesnil gab sich recht gern zu diesem Spiel her und belagerte den alten Nudelfabrikanten, der ihr schließlich eine Unterredung gewährte. Aber als sie fand, daß er ihren Versuchen, ihn für ihre eigene Rechnung zu verführen, tugendhaft, ja geradezu verstockt widerstand, verließ sie ihn empört über sein grobes Benehmen.
»Mein Engel«, sagte sie zu ihrer lieben Freundin, »aus diesem Mann ist nichts herauszuholen, er ist ganz lächerlich mißtrauisch, er ist ein Pfennigfuchser, ein Trampel, ein Dummkopf, der Ihnen nur Verdruß bereiten wird.«
Zwischen Herrn Goriot und Madame l'Ambermesnil waren Dinge vorgefallen, daß sich die Gräfin nicht länger mehr mit ihm unter einem Dach wissen wollte. Am nächsten Tage zog sie aus, wobei sie vergaß, ihre Rechnung für 6 Monate Pension zu bezahlen, und nur alten Plunder, den man auf 5 Francs schätzte, zurückließ. Madame Vauquer stellte verzweifelte Nachforschungen nach ihr an, aber sie konnte von der Gräfin in ganz Paris kein Lebenszeichen entdecken. Sie sprach noch oft von dieser traurigen Affäre, wobei sie sich über ihr zu großes Vertrauen beklagte – in Wirklichkeit war sie mißtrauischer als eine Katze. Aber sie hatte mit vielen Leuten den Charakterzug gemeinsam, ihrer nächsten Umgebung zu mißtrauen und sich dafür dem ersten besten auszuliefern. Diese seltsame, aber wahre moralische Tatsache hat eine Wurzel im menschlichen Herzen, die man leicht entdecken kann. Vielleicht haben manche Menschen von den Personen, mit denen sie zusammen leben, nichts mehr zu gewinnen. Nachdem sie nun die Leere ihrer Seele gezeigt haben, fühlen sie sich von ihnen insgeheim mit der verdienten Strenge verurteilt, aber da sie ein unbezwingliches Verlangen nach Schmeicheleien verspüren und gern die Eigenschaften haben möchten, die sie nicht besitzen, hoffen sie, die Achtung oder das Herz der Fremden zu gewinnen, selbst auf die Gefahr hin, dabei eines Tages hereinzufallen. Endlich gibt es sozusagen käuflich geborene Wesen, die ihren Freunden und nächsten Verwandten nichts Gutes tun, weil dies ihre Pflicht ist. Dagegen verspüren sie einen Kitzel ihrer Eigenliebe, wenn sie Unbekannten Dienste erweisen. Je näher der Kreis ihrer Beziehungen bei ihnen liegt, um so weniger lieben sie, je weiter er sich ausdehnt, um so diensteifriger sind sie. Madame Vauquer gehörte ohne Zweifel zu diesen beiden Menschenarten, die im Grunde ihres Herzens schlecht, falsch und verabscheuungswürdig sind.
»Wenn ich damals schon hier gewesen wäre«, sagte später Vautrin zu ihr, »so wäre dies Unglück nicht geschehen. Ich hätte diese Gaunerin hübsch entlarvt. Ich kenne solche Schliche.«
Wie alle engherzigen Gemüter verstand es Madame Vauquer nicht, von den Dingen Abstand zu nehmen und ihre Ursachen richtig zu beurteilen. Sie liebte es, sich für ihre eigenen Fehler an anderen schadlos zu halten. Als sie diesen Verlust erlitt, hielt sie den ehrbaren Nudelfabrikanten für die Quelle ihres Unglückes, und sie begann jetzt, wie sie sagte, sich auf seine Rechnung von ihrer zu großen Vertrauensseligkeit zu ernüchtern. Als sie die Zwecklosigkeit ihrer Liebeslockungen und ihrer Repräsentationsunkosten erkannt hatte, wußte sie bald einen Grund dafür zu finden. Sie bemerkte jetzt, daß ihr Pensionär schon immer, wie sie sich ausdrückte, so seine »Allüren« gehabt habe. Endlich wurde ihr klar, daß ihr hübsch aufgebauter Hoffnungstraum auf einer chimärischen Grundlage beruhe und daß sie nach dem kräftigen Ausdruck der sich darin offenbar auskennenden Gräfin aus diesem Mann niemals etwas herausholen würde. Wie es meist zu geschehen pflegt, ging sie in ihrer Abneigung weiter als in ihrer Freundschaft. Ihr Haß erklärte sich nicht aus gekränkter Liebe, sondern aus ihren zerstörten Hoffnungen. Wenn das menschliche Herz seine Ruhe findet, sobald es die Höhen der Zuneigung erreicht hat, so hält es selten bei dem jähen Hinabgleiten in den Abgrund des Hasses an. Aber da Goriot ihr Pensionär war, war die Witwe gezwungen, die Ausbrüche ihrer verletzten Eigenliebe zurückzuhalten, die Seufzer zu unterdrücken, die diese Enttäuschung erregte, und ihre Rachgier in sich hineinzufressen: wie ein Mönch, der von seinem Abt ungerecht gequält wird. Kleine Geister befriedigen ihre guten oder schlechten Empfindungen durch fortdauernde Kleinlichkeiten. Die Witwe verwandte ihre ganze weibliche Bosheit darauf, heimliche Quälereien gegen ihre Opfer zu erfinden. Sie begann damit, alles Überflüssige ihrer Pension einzuschränken.