Vielleicht ohne ihr Wissen, durch die Kraft des einen und die Schönheit des anderen angezogen, teilte Mademoiselle Taillefer ihre flüchtigen Blicke und ihre geheimen Gedanken zwischen diesem Vierzigjährigen und dem jungen Studenten. Aber beide schienen nicht an sie zu denken, obwohl der Zufall von einem Tag zum anderen ihre Lage ändern und sie zu einer reichen Partie machen konnte. Übrigens gaben sich alle diese Personen nicht die Mühe festzustellen, ob die Schicksalsschläge, von denen die anderen erzählten, wahr oder erdichtet seien. Alle brachten sie einander eine mit Mißtrauen gemischte Gleichgültigkeit entgegen, die sich aus ihrer eigenen Situation ergab. Sie wußten sich unfähig, die Leiden der anderen zu erleichtern, und mit dem Anhören der Unglücksberichte war immer auch schon ihr Mitleid erschöpft. Wie alte Eheleute hatten sie sich nichts mehr zu sagen. Zwischen ihnen blieb daher nichts als die Beziehungen eines mechanisch ablaufenden Zusammenlebens, das Spiel eines schlecht geölten Räderwerkes. Alle konnten sie auf der Straße ungerührt an einem Blinden vorübergehen, ohne Erregung den Bericht eines Unglücks entgegennehmen. Sie erblickten in jedem Todesfall die Lösung eines Jammerproblems, das sie auch angesichts der schrecklichsten Agonie kalt ließ.
Die glücklichste unter diesen trostlosen Seelen war immer noch Madame Vauquer, die Herrscherin dieses freien Hospizes. Für sie allein war der kleine Garten, den die Hitze und die Kälte, den Trockenheit und Feuchtigkeit wüst wie eine Steppe ließen, ein lachender Lustgarten. Für sie allein hatte dieses gelbe freudlose Haus, das nach dem Schimmel eines Krämerladens roch, seine Reize: Diese Gefangenenzellen gehörten ihr! Sie ernährte ihre auf Lebenszeit verurteilten Sträflinge und herrschte über sie mit unbestrittener Autorität. Wo hätten diese armen Wesen in Paris zum gleichen Preise eine gesunde, ausreichende Nahrung gefunden und eine Wohnung, die sie selbst, wenn auch nicht elegant und bequem, so doch wenigstens sauber und luftig finden konnten? Selbst wenn sich Madame Vauquer eine schreiende Ungerechtigkeit erlaubt hätte, das Opfer hätte sie klaglos ertragen.
Eine solche Vereinigung von menschlichen Wesen mußte im kleinen die Elemente eines vollständigen Gesellschaftskörpers darbieten. Und so war es auch. Unter den 18 Tischgenossen fand sich wie in allen Schulen, wie in der Welt überhaupt, ein armes verstoßenes Geschöpf, eine Zielscheibe für alle Spöttereien. Zu Beginn seines zweiten Studienjahres wurde diese Figur für Eugen de Rastignac die bemerkenswerteste unter all denen, mit denen zu leben er noch für zwei Jahre gezwungen war. Dieser Prügelknabe war der ehemalige Nudelfabrikant, der Vater Goriot, auf dessen Haupt ein Maler das ganze Licht konzentriert hätte, so wie auch wir es tun müssen. Wie aber kam es, daß eine solche beinahe haßerfüllte Verachtung, eine solche mit Mitleid gemischte Verfolgungswut, daß eine solche Nichtachtung des Unglücks gerade diesen, den ältesten Pensionär traf? Hatte er selbst durch Lächerlichkeiten und Bizarrerien, die man weniger verzeiht als Laster, Anlaß dazu gegeben? Diese Fragen kann man bei mancher sozialen Ungerechtigkeit aufwerfen. Vielleicht liegt es in der menschlichen Natur, gerade dem alles aufzubürden, der alles aus Demut, aus Schwäche oder Gleichgültigkeit trägt. Lieben wir es nicht alle, unsere Kraft auf Kosten eines anderen zu beweisen? Das schwächste Geschöpf, der Pariser Straßenjunge, läutet an allen Türen, wenn es draußen gefroren hat, oder er klettert auf ein Denkmal, um auf ihm seinen Namen zu verewigen.