Zwei Gestalten bildeten einen auffallenden Kontrast zu den übrigen Pensionären und Stammgästen. Mademoiselle Victorine Taillefer hatte zwar die krankhafte Blässe junger bleichsüchtiger Mädchen, und obwohl sich auch auf ihren Zügen das Leid malte, das den Grundzug dieses Gemäldes ständigen Jammers bildet: ihr Gesicht war nicht alt, ihre Bewegungen und ihre Stimme lebhaft, trotz ihrer ärmlichen Art und ihrer scheuen Zurückhaltung. Dieses junge Unglückswesen glich einem Baum mit verwelkten Blättern, den man in ein widriges Gelände verpflanzt hat. Ihr zarter Teint, ihr rötlich-blondes Haar, ihre zierliche Figur hatten die Grazie, die die modernen Dichter in den Statuetten des Mittelalters entdecken. Ihre dunkelgrauen Augen sprachen von Sanftmut und christlicher Resignation, ihre einfachen, billigen Kleider verrieten jugendliche Formen. Sie war hübsch, wenn man sie mit ihrer Umgebung verglich. In glücklicherer Lage wäre sie sicher reizend gewesen: Das Glück ist die Poesie der Frauen, wie die Toilette ihre Schminke ist. Wenn die Freuden eines Balles ihren Rosenschimmer über dieses bleiche Gesicht gebreitet hätten, wenn die Annehmlichkeiten eines eleganten Lebens diese schon leicht eingefallenen Wangen gerundet und getönt hätten, wenn diese traurigen Augen von der Liebe belebt worden wären, so hätte es Victorine mit den schönsten jungen Mädchen aufnehmen können. Es fehlte ihr das, was die Frauen zum zweiten Male zur Frau macht, der Putz und die Liebesbriefe.
Ihre Geschichte hätte den Stoff zu einem Roman liefern können. Ihr Vater glaubte Gründe zu haben, sie nicht als rechtmäßig anzuerkennen, und wollte sie nicht in seinem Hause behalten. Er gewährte ihr nur 600 Francs jährlich und hatte seine Besitztümer zu barem Geld gemacht, um alles seinem Sohn zu hinterlassen. Madame Couture, eine entfernte Verwandte – bei ihr war die Mutter Victorines vor Verzweiflung gestorben –, nahm sich der Waise wie ihres eigenen Kindes an. Unglücklicherweise besaß die Witwe des Zahlmeisters der republikanischen Armee nur ihr Witwengeld und ihre Pension. So mußte sie also vielleicht einmal dieses arme Mädchen ohne Kenntnisse und Hilfsquellen mittellos zurücklassen. Die gute Frau führte Victorine alle Sonntage zur Messe und alle 14 Tage zur Beichte, um auf jeden Fall ein frommes Mädchen aus ihr zu machen. Sie hatte recht. Die religiösen Empfindungen boten diesem verlassenen jungen Menschen eine Zuflucht. Sie liebte ihren Vater, jedes Jahr ging sie zu ihm, um ihm zu sagen, daß ihre Mutter ihm verziehen habe. Aber alle Jahre harrte sie vergebens vor der unerbittlich verschlossenen väterlichen Tür. Ihr Bruder, der einzig mögliche Vermittler, hatte sie nicht ein einziges Mal in vier Jahren besucht und sandte ihr keinerlei Unterstützung. Sie betete zu Gott, er möge ihrem Vater die Augen öffnen und das Herz ihres Bruders erweichen. Sie betete für beide, ohne sie anzuklagen. Madame Couture und Madame Vauquer fanden nicht genug Schimpfworte, um dieses barbarische Verhalten zu brandmarken. Wenn sie den niederträchtigen Millionär schmähten, fand Victorine nur sanfte Worte, ähnlich dem Ruf der verwundeten Ringeltaube, deren Schmerzensschrei noch Liebe ausdrückt.
Eugen de Rastignac war ein richtiger Südfranzose mit weißem Teint, schwarzen Haaren und blauen Augen. Benehmen, Manieren und Haltung ließen ihn als Sohn einer vornehmen Familie erkennen, in der man von Kindheit an und auf Tradition auf guten Geschmack Wert legt. Wenn er mit seiner Kleidung sparsam war, wenn er an gewöhnlichen Tagen seine alten Anzüge auftrug, so konnte er doch auch manchmal als eleganter junger Mann gekleidet auftreten. Gewöhnlich trug er einen alten Überrock, eine schlechte Weste, die häßliche, schwarze, abgenutzte und schlechtgeknüpfte Krawatte des Studenten, eine entsprechende Hose und mehrfach besohlte Stiefel.