Über der dritten Etage befanden sich ein Wäscheboden sowie zwei Mansarden, in denen der Hausbursche Christoph und die dicke Köchin Sylvia schliefen. Neben den sieben Hauspensionären hatte Madame Vauquer jahraus, jahrein noch acht Studenten der Rechte und der Medizin sowie zwei oder drei in der Nähe wohnende Stammgäste, alle nur auf das Diner abonniert. Im Speisesaal waren mittags daher 18 Personen versammelt, während etwa 20 Platz gehabt hätten. Morgens aber fanden sich nur die sieben Mieter ein, deren Zusammensein dem Frühstück den Charakter einer Familienmahlzeit verlieh. Alle kamen in Pantoffeln herab und jeder erlaubte sich vertraulich Bemerkungen über Verhalten und Aussehen der auswärts wohnenden Gäste wie über die Ereignisse des verflossenen Abends, alles mit der ganzen Offenheit langer Bekanntschaft. Diese sieben Pensionäre waren die Lieblinge der Madame Vauquer, die ihnen mit mathematischer Genauigkeit ihre Bedienung je nach der Höhe des Pensionspreises zuteil werden ließ. Von diesem einzigen Standpunkt aus wurden die Wesen, die der Zufall hier zusammengeführt hatte, betrachtet. Die beiden Mieter der zweiten Etage zahlten nur 72 Francs im Monat. Dieser billige Preis, den man nur im Faubourg St-Marcel, zwischen der Bourbe und der Salpêtrière zahlt (und von dem nur Madame Couture eine Ausnahme machte), beweist, daß die Pensionäre sich mehr oder weniger offenkundig in einer unglücklichen Lage befinden mußten. Das trostlose Aussehen des Hausinneren wiederholte sich dann auch in der Kleidung seiner Gäste, die bei allen gleich abgerissen war. Die Männer trugen Überröcke, deren Farbe zweifelhaft geworden war, Schuhe, wie sie in den eleganten Vierteln in die Rinnsteine geworfen werden, zerschlissene Wäsche, kurz, eine Kleidung, die sozusagen in den letzten Zügen lag. Die Frauen erschienen in unmodernen, gefärbten und wieder ausgeblichenen Kleidern mit alten geflickten Spitzen, abgenutzten Handschuhen, gelblich gewordenen Halskrausen und ausgefransten Fichus. Im Gegensatz zu ihrer Kleidung waren jedoch die Pensionäre fast durchweg recht solid gebaut. Sie zeigten alle eine Konstitution, die den Stürmen des Lebens getrotzt hatte, kalte, harte Gesichter, die das Leben abgeschliffen hatte wie außer Kurs gesetzte Münzen. In welken Mündern zeigten sich gierige Zähne. Alle diese Pensionäre ließen frühere oder gegenwärtige Dramen ahnen, keine Dramen, wie sie sich im Rampenlicht und zwischen gemalten Kulissen abspielen, sondern wirkliche, stumme Dramen, Dramen ohne Pausen, die einem das Herz heiß machen, so kalt die handelnden Personen selbst auch sein mögen.
Das alte Fräulein Michonneau trug über ihren ermüdeten Augen einen schmutzigen Schirm aus grünem Taft, zusammengehalten durch einen Messingdraht, der den Engel des Mitleids zum Entsetzen bringen konnte. Ihr Schal mit seinen dünnen jämmerlichen Fransen schien ein Skelett zu bedecken, so knochig waren die Formen, die er verbarg. Welche Säure konnte dieses Geschöpf seiner weiblichen Formen beraubt haben? Sie mußte einmal hübsch und ansehnlich gewesen sein: War es das Laster, war es der Kummer, war es die Begierde gewesen? Hatte sie zuviel geliebt? War sie Kleiderhändlerin gewesen oder Kurtisane? Büßte sie die Triumphe einer ausgelassenen Jugend, die die Freuden gesucht hatte, mit einem Alter, vor dem die Passanten auf der Straße flohen? Ihr glatter Blick ließ einen erschauern, ihre verkrüppelte Figur war eine Drohung. Sie hatte die schrille Stimme einer Grille, die in ihrem Busch das Nahen des Winters kündet. Sie erzählte, sie habe einen alten blasenkranken Herrn gepflegt, den seine Kinder verlassen hatten, weil sie ihn ohne Vermögen glaubten. Der Greis hatte ihr eine Leibrente von 1000 Francs vermacht, die immer wieder von den Erben, deren Schmähungen das alte Fräulein ausgesetzt war, angefochten wurde. Obwohl die Leidenschaften ihr Gesicht verwüstet hatten, fand man in ihm doch noch Spuren einer Feinheit des Gewebes und einer Zartheit, die vermuten ließ, daß ihr Körper noch einige Reste von Schönheit bewahrt hatte.