›Meine liebe Cousine . . .‹
›Ich bin nicht mehr Eugénie‹, dachte sie, und ihr Herz krampfte sich zusammen.
›Sie . . .‹
›Er nannte mich du!‹ Sie kreuzte die Arme über die Brust und wagte nicht weiterzulesen. Große Tränen traten ihr in die Augen.
»Ist er tot?« fragte Nanon.
»Dann hätte er nicht schreiben können«, sagte Eugénie. Sie las den ganzen Brief; hier folgt er:
›Meine liebe Cousine!
Sie werden, wie ich glaube, mit Vergnügen vernehmen, daß meine Unternehmungen Erfolg hatten. Sie haben mir Glück gebracht; ich bin als reicher Mann zurückgekehrt und habe den Rat meines onkels befolgt, dessen Tod sowie der Tod meiner Tante mir durch Monsieur des Grassins soeben mitgeteilt worden ist.
Der Tod unserer Verwandten ist Naturgesetz, und wir müssen ihnen alle einmal folgen. Ich hoffe, daß Sie heute über das Unglück, das Sie betroffen hat, getröstet sind. Nichts widersteht dem Strom der Zeit – ich erfahre es an mir. Ja, meine liebe Cousine, die Zeit der Illusionen ist vorüber, bekümmert fühle ich das. Doch was wollen Sie! Bei meinen Reisen durch ferne Länder habe ich das Leben kennengelernt und darüber nachgedacht. Heute habe ich gar viele Dinge im Kopf, an die ich früher nicht im entferntesten gedacht habe. Sie sind frei, verehrte Cousine, und auch ich bin frei. Dem Anschein nach steht der Verwirklichung unserer einstigen Pläne nichts im Wege, aber ich habe einen zu aufrichtigen Charakter, um Ihnen den Stand meiner Angelegenheiten zu verbergen. Ich habe nicht vergessen, daß ich nicht mehr mir selbst gehörte; auf meinen langen Fahrten habe ich mich stets der kleinen Holzbank erinnert . . .‹
Eugénie sprang auf, als säße sie auf glühenden Kohlen, und setzte sich auf eine der Steinstufen, die zum Hof hinunterführten.
›. . . der kleinen Holzbank erinnert, auf der wir einander ewige Liebe geschworen haben; ich erinnerte mich oft des grauen Saales, des dunklen Hausflurs, meines Mansardenstübchens und der Nacht, da Sie mir voll zartfühlender Güte meine Zukunftspläne leichter gestalteten. Ja, diese Erinnerungen haben meinen Mut gestählt, und ich habe mir gesagt, daß Sie immer an mich denken, wie ich zur vereinbarten Stunde häufig Ihrer gedachte. Haben Sie oft und innig um neun Uhr in den Himmel, die Wolken geblickt? Ja, nicht wahr?
Ich will eine mir so heilige Freundschaft nicht betrügen; nein, ich darf Sie nicht täuschen. Es handelt sich augenblicklich für mich um eine Verbindung, die allen Hoffnungen und Ansprüchen genügt, die ich bezüglich einer Ehe hege. Die Liebe in der Ehe ist eine Schimäre. Heute weiß ich aus Erfahrung, daß man den sozialen Gesetzen gehorchen muß und bei einer Heirat den Forderungen der Welt, der Konvention zu folgen hat.