Trotz der Inbrunst, mit der Grandet die Gesundheit seiner Frau herbeiwünschte – eine Erbteilung hätte für ihn den Tod bei lebendigem Leibe bedeutet – trotz der Aufmerksamkeit, mit der er stets selbst die geringsten Wünsche von Mutter und Tochter erfüllte; trotz der zärtlichsten Pflege von Seiten Eugénies schwand Madame Grandets Kraft unheimlich schnell dahin. Tagtäglich wurde sie schwächer und welkte, wie die meisten Frauen hinwelken, wenn sie in diesem Alter von einer Krankheit ergriffen werden. Sie war matt wie sterbendes Herbstlaub. Die Strahlensonne nahender Himmelsherrlichkeit verklärte sie, wie die Sonne das Herbstlaub verklärt und vergoldet. Ihr Tod, ihr Sterben war ihres Lebens würdig, es war ein christliches Sterben, ein erhabener Tod. Im Monat Oktober 1822 strahlten all ihre Tugenden noch einmal auf: ihre engelgleiche Geduld und ihre Liebe zu ihrem Kinde; sie erlosch, ohne die geringste Klage verlauten zu lassen. Ein fleckenloses Lamm stieg sie zum Himmel auf und hatte nur ein Leidgefühl: Mitleid mit der sanften Gefährtin ihres kalten, freudlosen Daseins, der ihre letzten Blicke tausend Leiden vorauszusagen schienen. Sie zitterte davor, dies weiße Lämmchen allein zurücklassen zu müssen inmitten einer egoistischen Welt, die ihm das Fell abziehen, ihm seine Schätze rauben würde. »Mein Kind«, sagte sie, ehe sie verschied, »nur im Himmel ist das wahre Glück, eines Tages wirst du das einsehen,«
Am Tage nach ihrem Tode fühlte Eugénie sich inniger als je an dieses Haus gekettet, in dem sie geboren war, in dem sie so viel gelitten hatte, in dem nun ihre Mutter gestorben war. Sie konnte die Fensternische und den erhöhten Sessel nicht ansehen, ohne in Tränen auszubrechen.
Sie vermeinte, das Herz ihres alten Vaters verkannt zu haben, da sie sich von seiner zärtlichsten Fürsorge umgeben sah: er kam und reichte ihr den Arm, um mit ihr zum Frühstück hinunterzugehen; er sah sie stundenlang mit fast gütigen Blicken an; kurz, er hätschelte sie, als sei sie aus Gold.
Der alte Böttcher glich sich selbst so wenig, er zitterte so sehr vor seiner Tochter, daß Nanon und die Cruchotaner, die Zeugen seiner Schwäche waren, diese seinem hohen Alter zuschrieben und vermeinten, Grandets Härte und Gewinnsucht sei gebrochen. An dem Tage aber, als er und seine Tochter Trauer anlegten, zeigten sich die Gründe des Biedermanns für sein Benehmen.
Es war nach dem Diner, zu dem auch Notar Cruchot geladen war.
»Mein liebes Kind«, sagte Grandet zu seiner Tochter, nachdem der Tisch abgedeckt und die Türen geschlossen worden waren, »du bist nun die Erbin deiner Mutter, und da gibt es zwischen uns beiden allerlei zu erledigen. – Nicht wahr, Cruchot?«
»Ja.«