Eugénie ging unter Nanons Schutz zur Kirche. Wenn Madame des Grassins auf dem Nachhauseweg sie ansprach und neugierige Fragen stellte, so antwortete sie ausweichend. Dessenungeachtet war zwei Monate später sowohl den drei Cruchots wie Madame des Grassins das Geheimnis von Eugénies Verbannung bekannt. Es kam ein Augenblick, wo die Gründe, die ihr Fernbleiben rechtfertigen sollten, unzureichend waren. Dann – ohne daß man wußte, wer das Geheimnis verbreitet hatte – erfuhr die ganze Stadt, daß Mademoiselle Grandet seit dem Neujahrstag auf Befehl ihres Vaters Stubenarrest habe, bei Wasser und Brot und ohne Heizung, daß Nanon ihr Leckerbissen bereitete, die sie ihr des Nachts zutrug; und man wußte sogar, daß das junge Mädchen ihre Mutter nur dann sehen und pflegen konnte, wenn ihr Vater das Haus verlassen hatte.
Grandets Betragen wurde sehr streng verurteilt. Die ganze Stadt erklärte ihn sozusagen für vogelfrei, erinnerte sich seiner Verrätereien, seiner Härte und schloß ihn aus der Gesellschaft aus. Wenn er des Weges kam, so tuschelten die Leute. Schritt seine Tochter in Begleitung Nanons die gewundene Straße hinunter, um zur Messe oder Vesper zu gehen, so traten die Leute ans Fenster, um voller Neugierde Haltung und Miene der reichen Erbin zu betrachten, deren Antlitz eine engelhafte Sanftheit und Trauer zeigte.
Ihre Gefangenschaft, die Ungnade ihres Vaters, das alles focht sie wenig an. Hatte sie nicht ihre Weltkarte, konnte sie nicht die kleine Bank im Garten sehen, den Nußbaum, die alte Mauer, und fühlte sie nicht auf ihren Lippen den Honig, den die Küsse der Liebe darauf zurückgelassen hatten?
Eine Zeitlang beachtete sie nicht die Stadtgespräche, deren Gegenstand sie war, ebensowenig wie ihr Vater sie beachtete. Fromm und rein fühlte sie sich vor Gott, und ihre Liebe half ihr, den väterlichen Zorn, die väterliche Rache geduldig hinzunehmen. Aber ein tiefer Schmerz brachte allen andern Kummer zum Schweigen: ihre Mutter, dieses sanfte und zarte Geschöpf, deren Seele der nahe Tod verklärte, der auch ihr Antlitz verschönte – ihre Mutter schwand hin von Tag zu Tag. Oft machte Eugénie sich Vorwürfe, daß sie selbst die Ursache dieser grausamen, schleichenden Krankheit sei, die die Mutter vernichtete. Diese Gewissensbisse ketteten sie noch inniger an ihre Liebe.
Jeden Morgen, sobald ihr Vater ausgegangen war, kam sie ans Bett der Mutter; hierher brachte ihr Nanon das Frühstück. Aber die arme Eugénie war so traurig, litt so die Leiden ihrer Mutter mit, daß sie für Nanon nur eine stumme Bewegung hatte; sie weinte und wagte nicht, von ihrem Cousin zu sprechen. Madame Grandet mußte als erste von ihm sprechen. »Wo ist er?« sagte sie; »warum schreibt er nicht?«
»Denken wir an ihn, liebe Mutter«, antwortete Eugénie, »wozu von ihm sprechen? Ihr Leiden bekümmert mich jetzt mehr als alles.«
›Alles‹ – das war ›er‹.
»Mein Kind«, sagte Madame Grandet, »ich frage nichts mehr nach dem Leben. Gott hat mir dazu verholfen, das Ende meiner Leiden freudig zu erwarten.«