Er nahm seinen Hut, zog die Handschuhe an und ging.
»Sie wollen also wirklich fort?« fragte Eugénie Charles und warf ihm einen halb traurigen, halb bewundernden Blick zu.
»Ich muß«, antwortete er und senkte den Kopf.
Seit einigen Tagen war Charles in Haltung, Manieren und Worten zum Mann gereift; wohl drückte sein Wesen tiefen Kummer aus, aber auch die Kraft, aus der Last seiner ungeheuren Verpflichtungen neuen Mut zu schöpfen. Er seufzte nicht mehr, er war fest geworden. Auch Eugénie hatte den Charakter ihres Cousins nie so günstig beurteilt als an dem Tage, da er in derbes Schwarz gekleidet kam, das seinem bleichen Antlitz und düstern Gesichtsausdruck gut stand. An demselben Tag legten auch die beiden Frauen Trauer an und wohnten mit Charles einem Requiem bei, das in der Pfarrkirche für die Seele des verstorbenen Guillaume Grandet abgehalten wurde.
Beim zweiten Frühstück erhielt Charles Briefe aus Paris und las sie.
»Nun, lieber Cousin, sind Sie mit dem Gange Ihrer Angelegenheiten zufrieden?« fragte Eugénie mit leiser Stimme.
»Du darfst niemals solche Fragen stellen, mein Kind«, bemerkte Grandet. »Zum Teufel! Ich sage dir doch nichts von meinen Geschäften, wie kannst du es wagen, die Nase in die Angelegenheiten des Cousins zu stecken! Laß ihn gehn, den Jungen!«
»Oh! Ich habe keine Geheimnisse«, sagte Charles.
»Ta ta ta ta! Mein Junge, du weißt, daß man in Geschäftsdingen die Zunge im Zaum halten muß.«
Als die beiden Liebenden dann allein im Garten waren, zog Charles Eugénie auf die alte Bank unterm Nußbaum nieder und sagte: »Ich habe Alphonse richtig beurteilt, er hat alles prächtig erledigt, mit Klugheit und Umsicht. Ich habe keine Schulden mehr in Paris, alle meine Möbel sind verkauft, und er benachrichtigt mich, daß er, dem Rate eines langjährigen Seefahrers folgend, für die noch übriggebliebenen dreitausend Francs einen Vorrat europäischer Kuriositäten gekauft habe, die man in Indien vorteilhaft veräußern könne. Er hat meine Gepäckstücke nach Nantes befördern lassen, von wo dieser Tage ein Schiff nach Java abgehen wird. In fünf Tagen, Eugénie, müssen wir Abschied nehmen – vielleicht für immer, jedenfalls für lange. Meine Ausrüstung und zehntausend Francs, die mir zwei meiner Freunde schicken, sind ein gar kläglicher Anfang. Ich kann erst in einigen Jahren an Heimkehr denken. Meine liebe Cousine, Sie dürfen nicht Ihr Leben an mein so unsicheres Dasein knüpfen. Ich kann umkommen, und Ihnen bietet sich vielleicht eine reiche Heirat . . .«
»Sie – lieben mich? . . .« fragte sie.
»O ja, sehr«, erwiderte er mit einer Innigkeit des Tons, die ein tiefes Gefühl verriet.
»Ich werde warten, Charles! – Gott! Mein Vater ist am Fenster«, rief sie, den Cousin zurückstoßend, der sie küssen wollte.
Sie rettete sich in den Hausgang, Charles folgte ihr; als sie ihn gewahrte, flüchtete sie bis an den Fuß der Treppe und öffnete die kleine Nebentür. Ohne eigentlich zu wissen, wo sie war, befand sich Eugénie nun nahe bei Nanons Kammer, im dunkelsten Winkel des Ganges. Hier ergriff Charles, der ihr gefolgt war, ihre Hand und legte sie auf sein Herz; dann umfaßte er das Mädchen und zog es sanft nahe zu sich heran. Eugénie sträubte sich nicht mehr, sie empfing und gab den reinsten, lieblichsten, aber auch tiefinnigsten aller Küsse.
»Liebe Eugénie, ein Cousin ist besser als ein Bruder, er kann dich heiraten«, sagte Charles.