»Madame Grandet«, sagte Nanon, die ihre schwarze Haube aufgesetzt und ihren Korb genommen hatte, »ich brauche nur drei Francs, behalten Sie den Rest. Lassen Sie, lassen Sie, das genügt vollständig.«
»Mach uns ein gutes Essen, Nanon, mein Cousin wird auch herunterkommen«, sagte Eugénie.
»Sicherlich, es geht etwas ganz Besonderes vor«, bemerkte Madame Grandet. »Das ist seit unserer Hochzeit das drittemal, daß dein Vater ein Diner gibt.«
Gegen vier Uhr, als Eugénie und ihre Mutter mit dem Auflegen der Gedecke für sechs Personen soeben fertig geworden waren und der Hausherr einige Flaschen seines ›Allerbesten‹ heraufgeholt hatte, den die Leute in der Provinz sorgsam hüten, trat Charles in den Saal. Der junge Mann war blaß. Seine Bewegungen, seine Miene, seine Blicke und der Ton seiner Stimme waren von einer anmutigen Trauer. Er markierte nicht den Leidenden, er litt tatsächlich, und der sanfte Schleier des Kummers, den der Schmerz über sein Antlitz gebreitet hatte, gab ihm das interessante Aussehen, das den Frauen so gefällt. Eugénie liebte ihn darum noch mehr. Vielleicht auch hatte das Unglück ihn ihr nähergebracht. Charles war ihr nun nicht mehr der reiche und schöne junge Mann, der in einer ihr unzugänglichen Sphäre lebte, sondern ein Verwandter, über den ein entsetzliches Elend hereingebrochen war. Elend schafft Gleichheit. Die Frauen haben eins mit den Engeln gemein: die Leidenden gehören ihnen! Charles und Eugénie verstanden einander mit den Augen und redeten zueinander mit den Augen. Da es aus war mit seinem Dandytum, setzte sich der arme Verwaiste in einen Winkel und verhielt sich schweigend und zurückhaltend. Aber Minute um Minute leuchtete der sanfte, liebkosende Blick seiner Cousine zu ihm hinüber und bat ihn, von seinen traurigen Gedanken abzulassen, sich mit ihr in der weiten Flur der Hoffnung und der Zukunft zu ergehen.
Zur selben Zeit war die Stadt Saumur in gewaltiger Aufregung über das Diner, das Grandet den Cruchots geben wollte – in noch gewaltigerer Aufregung, als sie gestern gewesen war, als er seine Ernte verkauft hatte, trotzdem das ein schweres Verbrechen an seinen Berufsgenossen gewesen war. Hätte der politische Weinbauer sein Diner aus denselben Gründen veranstaltet, die seinerzeit dem Hunde des Alkibiades den Schwanz kosteten – er wäre vielleicht ein großer Mann gewesen. Aber er fühlte sich der Stadt, über die er sich fortwährend lustig machte, viel zu überlegen – er rechnete nicht mit ihr.
Die des Grassins erfuhren bald den plötzlichen Tod und vermutlichen Bankrott von Charles' Vater. Sie beschlossen, gegen Abend ihren geschätzten Kunden aufzusuchen, um ihm ihre Teilnahme und Freundschaft zu beweisen und nebenbei die Gründe zu erforschen, die ihn veranlaßt haben konnten, anläßlich dieses Ereignisses die Cruchots zum Diner einzuladen.
Pünktlich um fünf Uhr erschienen der Präsident de Bonfons und sein Onkel, der Notar – bis an die Zähne sonntäglich gekleidet. Die Gesellschaft setzte sich zu Tisch und begann damit, gehörig zuzulangen. Grandet war ernst, Charles schweigsam, Eugénie stumm, und Madame Grandet sprach nicht mehr wie immer; so wurde dieses Diner tatsächlich ein Kondolenzmahl. Als man sich erhob, sagte Charles zu onkel und Tante: »Erlauben Sie, daß ich mich zurückziehe! Ich habe eine große und traurige Korrespondenz zu erledigen.«
»Nur zu, Neffe!«