Während der Abwesenheit des Vaters genoß Eugénie das Glück, sich nach Herzenslust mit dem vielgeliebten Cousin beschäftigen zu können. Ohne Bangen schüttete sie den ganzen Schatz ihres Mitgefühls über ihn aus. Mitgefühl – das ist die einzige Überlegenheit der Frau, die einzige, die sie gern fühlen lassen will, die einzige, die sie dem Mann verzeiht, wenn er sich dabei ertappen läßt. Drei- oder viermal ging Eugénie und lauschte auf die Atemzüge des Cousins, horchte, ob er schlief; ob er erwachte. Dann, als er aufstand, widmete sie ihre Sorgfalt dem Rahm, dem Kaffee, den Früchten, den Tellern und Gläsern, kurz allem, was auf den Frühstückstisch kommen sollte. Leichtfüßig stieg sie auf der alten Treppe umher, um den Geräuschen zu lauschen, die aus der Stube des Cousins kamen. Kleidete er sich an? Weinte er noch? Sie schlich zur Tür.
»Lieber Cousin?«
»Liebe Cousine?«
»Wollen Sie unten im Saal frühstücken oder in Ihrem Zimmer?«
»Wo Sie wollen.«
»Wie geht es Ihnen?«
»Liebe Cousine, ich bin beschämt – ich habe Hunger.«
Diese Unterhaltung durch die Tür erschien Eugénie so interessant wie eine Episode in einem Roman.
»Dann wollen wir Ihnen also das Frühstück heraufbringen, um den Vater nicht zu verdrießen.«
Fröhlich wie ein Vogel schwebte sie zur Küche hinunter.
»Nanon, geh und bring sein Zimmer in Ordnung.«
Die so vielbenutzte alte Treppe, auf der man alle Geräusche im Hause vernehmen konnte, hatte für Eugénie alle müde Altersschwäche verloren; ihr schien sie hell und redselig und jung – jung wie sie selbst und ihre Liebe, der sie diente. Sogar ihre Mutter, ihre gute, nachsichtige Mutter wollte teilnehmen an ihren kleinen Herzensfreuden, und als Charles' Zimmer aufgeräumt war, gingen sie alle beide hinauf, um dem Unglücklichen Gesellschaft zu leisten. Gebot nicht die christliche Barmherzigkeit, ihm Trost zu spenden? Die beiden Frauen wußten aus ihrer Religion allerlei Sophismen zu ziehen, um ihre Handlungsweise vor sich selbst zu rechtfertigen. Charles Grandet sah sich also als den Gegenstand innigsten und zärtlichsten Sorgens. Sein kummerschweres Herz fühlte dankbar die Süße der sanften Freundschaft, der tiefen Sympathie, die diese beiden stets unterdrückten Seelen zu entfalten wußten – nun, da es Leid zu lindern galt und sie es darum wagen durften, frei aufzuatmen.