Eine Stunde später trat sie bei ihrer Mutter ein und half ihr, wie gewöhnlich, beim Ankleiden. Dann setzten sie sich beide auf ihren Platz am Fenster und erwarteten Grandet mit jener Unruhe und Angst vor einer Szene, vor Strafe, die das Herz erstarren läßt oder heiß macht, es zusammenkrampft oder ausdehnt, je nach Temperament verschieden. Selbst die Haustiere beweisen uns, daß Angst den Schmerz verdoppelt: sie schreien bei dem geringfügigsten Schmerz einer Züchtigung und schweigen, wenn sie sich selbst eine empfindliche Wunde beibringen. Der Biedermann kam herunter, aber er sprach nur ein paar zerstreute Worte mit seiner Frau, küßte Eugénie und – setzte sich zu Tisch; er schien seine Drohungen vom gestrigen Abend vergessen zu haben.
»Was macht mein Neffe? Der Junge ist nicht übertrieben aufdringlich.«
»Er schläft, Monsieur«, sagte Nanon.
»Um so besser, da braucht er keine Wachskerze«, sagte Grandet scherzhaft.
Diese seltsame Milde, diese bittere Heiterkeit überraschten Madame Grandet; sie blickte ihren Gatten besorgt an. Der Biedermann – hier mag die Bemerkung angebracht sein, daß in der Touraine, in Anjou, in Poitou und in der Bretagne die Bezeichnung ›Biedermann‹, die hier schon häufig Grandet zuteil wurde, sowohl für die rohesten wie für die gütigsten Menschen Anwendung findet, sobald sie ziemlich bejahrt sind; die Bezeichnung hat mit Sanftmut oder Redlichkeit der Person durchaus nichts zu tun – nahm also wieder seinen Hut und seine Handschuhe und sagte: »Ich werde auf den Marktplatz spazieren und sehen, ob ich unsern Cruchots begegne.«
»Eugénie, dein Vater hat entschieden etwas im Sinn.«
So war es. Grandet, der kein Langschläfer war, widmete oft die halbe Nacht den Kalkulationen, die seinen Ansichten, seinen Plänen ihre erstaunliche Sicherheit verliehen und ihnen stets Erfolg verschafften, worüber die Saumuraner sich immer von neuem wunderten. Alle menschliche Macht ist ein Resultat von Zeit und Geduld. Die mächtigen Leute wollen und wachen. Das Leben des Geizhalses ist eine beständige Übung aller menschlichen Kräfte im Dienste des Ichs; es stützt sich auf nur zwei Empfindungen: Eigenliebe und Gewinnsucht. Aber da Gewinnsucht in manchem Sinne die gesunde und wohlberechtigte Eigenliebe verkörpert, so sind Eigenliebe und Gewinnsucht zwei Teile eines Ganzen: des Egoismus. Von daher rührt vielleicht das außergewöhnliche Interesse, das geschickt in Szene gesetzte Geizige erregen. Jeder Geizhals hält die Leute am Fädchen, die sich allen menschlichen Regungen hingeben, und nutzt sie aus. Wo ist der Mensch, der keine Wünsche hätte, und wo der Wunsch, der ohne Geld zu erfüllen wäre?