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欧也妮葛朗台-Eugénie Grandet 66
日期:2018-08-16 10:06  点击:290
Die unergründlich tiefe Liebe Eugénies wurzelte vielleicht in den allerzartesten Nervenfäserchen; denn sie wuchs sich, wie manch ein Spötter sagen wird, zu einer Krankheit aus, die ihr ganzes Dasein beschattete. Viele Leute ziehen es vor, eine Entwicklung zur Katastrophe hin zu leugnen, statt die Fäden und Knoten, die Kraft des Gewebes zu prüfen, das in der sittlichen Weltordnung eine Handlung an die andere knüpft. Hier nun wird den Menschenkennern Eugénies bisheriges Leben ein Beweis sein für ihre kindliche Unüberlegtheit und für die Hilflosigkeit ihrer Seele gegenüber der Plötzlichkeit dieses neuen Empfindens. Je einförmiger ihr Leben bisher verlaufen war, um so lebhafter entfaltete sich jetzt in ihrer Seele das weibliche Mitleiden – das scharfsinnigste aller Gefühle. Aufgeregt durch die Ereignisse des Tages, hatte sie einen unruhigen Schlaf; sie erwachte mehrmals und horchte auf die Stimme des Cousins: sie vermeinte von neuem seine Seufzer zu hören, die seit dem Vorabend in ihrem Herzen widerklangen. Bald sah sie ihn vor Kummer vergehen, bald glaubte sie, daß er Hungers sterbe. Gegen Morgen vernahm sie mit Bestimmtheit einen schrecklichen Aufschrei. Sofort kleidete sie sich an und lief leichtfüßig hinauf zum Zimmer des Cousins, dessen Tür nicht verschlossen war. Der Tag graute. Die Kerze in der Leuchterdille war niedergebrannt. Charles, den der Schlaf übermannt hatte, schlief angekleidet im Lehnstuhl; sein Kopf war zur Seite auf das Bett gesunken; er träumte lebhaft, wie Leute träumen, die einen leeren Magen haben.
 
Eugénie konnte nach Herzensbedürfnis weinen; sie konnte das junge schöne Antlitz betrachten, das in Schmerz erstarrt war, die vom Weinen geschwollenen Augen, die noch im Schlaf Tränen zu vergießen schienen.
 
Charles empfand unwillkürlich die Anwesenheit Eugénies; er öffnete die Augen und sah sie mit dem Ausdruck tiefster Rührung vor sich stehen.
 
»Verzeihung, liebe Cousine«, sagte er. Er hatte offenbar keine Ahnung, wieviel Uhr es war und wo er sich befand.
 
»Es gibt hier Herzen, lieber Cousin, die Ihren Schmerz hören und ihn verstehen, und wir glaubten, Sie hätten vielleicht irgend etwas nötig. Sie müssen sich niederlegen; Sie ermüden nur in so unbequemer Lage.«
 
»Sie haben recht.«
 
»Also folgen Sie meinem Rat. Auf Wiedersehen.«
 
Sie eilte davon, beschämt und dennoch glücklich, nach ihm gesehen zu haben, Nur die Unschuld ist so verwegen. Die Tugend, die wissende Tugend ist berechnend wie das Laster. Eugénie, die sich in Gegenwart des Cousins ganz sicher gefühlt hatte, konnte sich, als sie nun wieder in ihrem Stübchen war, kaum auf den Beinen halten. Die Einfalt ihres Daseins hatte plötzlich ein Ende genommen; sie sann und prüfte, sie machte sich tausend Vorwürfe: ›Was wird er von mir denken? Er wird glauben, ich liebe ihn.‹ Gerade das war es, was sie am liebsten gesehen hätte. Die Liebe ist eine suggestive Kraft und weiß, daß Liebe Liebe erweckt. Welch ein Ereignis für das einsame junge Mädchen, so verwegen bei einem jungen Mann eingetreten zu sein! Gibt es nicht in der Liebe Gedanken und Handlungen, die für gewisse Seelen einem heiligen Verlöbnis gleichkommen? 

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